Wir werden die Träumenden sein -
eine Landsuche in Deutschland

J. Monika Walther

   Geht wieder eine Sekunde, eine runde Sekunde und ich will mich was lehren. Keine Fahnen auf Halbmast, keine Eifersucht auf den einzigen ansehnlichen Gott, das Auge, in dessen Blick wir leben, nicht mehr jeden Tag ein Schweigen, das die alten Fehler übertrifft.
   Ich öffne die Schränke, die Zeit im Ohr, die sibirische Himmelfahrt reise ich, das quietschende Drehen der Mühlenflügel vom Feld höre ich, die Stärke der Pferde bewundere ich und die ungeküßten Menschen zähle ich mit dünnen Bleistiftstrichen, voller Hoffnung für mich.
   Ein Kaddisch spreche ich ungeübt in Tarnòw und Leipzig, lasse die Seelen der Verwandten ruhen, lege für alle einen glatten runden Stein, warm gerieben, weiß nicht, was ich da tue, sage mir, wenn ich keinen habe, den ich liebe, kann ich auch keinen verlieren, aber lieber will ich einen verlieren, als nicht zu lieben. Meine Lust, mein Verlangen soll mich treiben und die Angst meine Seele nicht berühren. Wohl soll ich mich bei dir fühlen, wenn ich weiß, wo du bist; wo ich bin, such ich dich. Aber Lebensfurcht macht mich fühllos.
   Morgens nehme ich wahr, was ich versäumt habe und schreibe die vergessene Schrift, abends renne ich vom Glück überhäuft davon. Die Welt ist da, die Wörter wahr und sogar wahrhaftig und ich rede keine letzten Sätze und nicht um den heißen Katzenbrei herum. Heute nicht.
   Eine runde Sekunde und ich stelle Fragen, suche mir Antworten und beginne links außen am Strand die feinen Sandkörner zu zählen. Eins, zwei, drei, vier, fünf...
   "Ich habe Lust, glücklich zu sein und bin bereit, Tag für Tag um mein Portiönchen Leben mit dumpfen Eigensinn zu feilschen." Das schrieb Rosa Luxemburg an ihren Geliebten, der analysierte, paralysierte und Baupläne zeichnete. Nicht für Rosa ein Haus, für alle Menschen ein Dach. Ach Jogisches. Hast keine Nachtigall gehört.
   Auf die Länge der Mißdeutungen passen die Betten nicht, der Augenblick verzettelt, verkleinert, ohne warmes Herz und weiche Haut, aber Geschichten gibt es immer zu erzählen, deine, meine und die vom kleinen Moses ohne Brille, die von Herrn Blumenthal und Misses Bellay aus Leipzig, verstorben in Liverpool und die von Frau Anna Fischmann, die von der Idastraße in Leipzig, dem Haus Nummer Einundvierzig und vom deutschen Burmesen Karl Richard Jacobson, die vom Pferd des armen und kranken Handlungsreisenden Friedrich Wilhelm Wohlrath, das in der Szerokastraße zu Krakau um sein Überleben und zum Vergnügen aller auf den Tischen tanzte und die von der ungeteilten Erbengemeinschaft der Idastraße 41, bestehend aus zwei Toten, einer unauffindbar Emigrierten und einer Lebenden.
   Und die von Egon Hurgarowitsch, dem Bäcker und Erfinder der aus rotem Marzipan geformten wohlklingenden Spieluhren, dessen Frau ihr Leben lang Sonntag für Sonntag mit ihm haderte, wenn er die Töne mit rosig geblähten Wangen und einer Picoloflöte aus Schokolade in die Spieluhren blies. Sie verließ ihn mit all ihren Hoffnungen auf ein Leben ohne Marzipan und kam weinend wieder, kein neues Glück hatte sich gefunden, nur ein Liebhaber für wenige Nächte, und Herr Hurgarowitsch formte für sie das größte goldene Osterei und wieder schimpfte sie ihn aus, warf ihm vor, daß er hinter ihrem Rücken lebte, wann immer sie sich umdrehte, Heimlichkeiten dächte, so suchte er sich eine junge Geliebte am anderen Ende der Stadt, aber der Weg zu seiner Bäckerei war zu weit, der Atem für seine Schokoaldenflöte geriet ihm zu kurz. Also schlief er wieder in seinem Hause und ließ sich mit einer Flut von salzsäurigenWorten beschimpfen; heimlich dachte er, wenn er sein Gesicht abwandte, gerne dachte er heimlich. Und er träumte sich seine Frau, eine, die Spieluhren liebte, Zuckermelassen, Marzipanfarben und Flöte blasen konnte, Marzipanflöte.
   In Theresienstadt spielte Egon Hurgarowitch auf der Flöte, bis er verhungert war. Und seine Frau haderte noch immer mit ihm und tauschte die Flöte gegen ein Stück Brot. So spielte ein Fremder das letzte Lied für Egon Hurgarowitsch, dann aß er die Schokoladenflöte auf und seine Frau weinte bitterlich, über sich weinte sie und ihre Verlassenheit, denn sie vermißte ihren Mann, weil sie sich selbst vermißte.
   Viele Geschichten gibt es, muß nur ein Mensch zuhören und aufschreiben, auch diese: Auf einer Wiese, die bis in den Himmel sich erstreckte, stand eine schwarze Stute mit einem Schild um den Hals gehängt. Darauf war zu lesen: "Ich bin Frau Weiss."
   Und in einer runden Sekunde des Jahres 1938 geschah es, daß in der Szerokastraße in Krakau ein buntgeschecktes Pferd auf dem Tisch des größten Gasthauses tanzte. Es trommelte mit seinen Hinterhufen den besten Swing in Galizien. Der Wirt versorgte das Pferd reichlich mit Heu und sauber geschabten Mohrrüben an jedem Schabbesabend. Und doch lief ihm das Pferd davon und tanzte in Lemberg, Breslau und Ratibor. Zum Vergnügen aller jungen Mädchen und aller gelockten Gelehrten. Sie klatschten und lächelten und das Pferd trug eine weiße Decke und fraß frischen Klee. Am Schabbes verschlang es heimlich schlesische Weißwürste und zu Weihnachten schmückte es sich mit Lametta.
   Aber Weihnachten 1940 klatschten keine jungen Mädchen mehr und lächelten keine schwarz gekleideten Gelehrten. Es waren Soldaten, die das Pferd sattelten und auf ihm nach Osten ritten. Verborgen im kalten Schnee fraßen sie das Pferd auf.
   Und die Geschichte aus dem Talmud von den zwei Engeln, sie geht so: Zwei Engel begleiten den Menschen am Freitagabend auf seinem Weg von der Synagoge nach Hause, ein guter und ein böser Engel. Wenn der Mensch sieht, daß zu Hause die Lichter brennen, der Tisch gedeckt und das Bett bereitet ist, sagt der gute Engel Amen.
   Wenn der Mensch aber nichts von alledem vorfindet, sagt der böse Engel: "Möge es am nächsten Schabbat genauso aussehen." Und dem guten Engel bleibt nichts anderes übrig, als sein Amen hinzuzufügen, denn Amen zu sagen, das ist seine Aufgabe. Im Guten wie im Schlechten.
   Mein guter Engel muß traurig sein über die vielen Male, da er zur Verwünschung des bösen Engels Amen sagen mußte. Mein guter Engel muß traurig sein über die vielen, nicht zu zählenden Male, da ich ihn und mich verleugnete. Von keiner Herkunft wollte ich sein und von keiner Zukunft, keine, die alle Fremdwörter verkehrt herum weiß und keine, die die Gläser zählt, die an ihrem Kopf vorbei geflogen sind. Ein Wort ist ein Wort ist ein Wort, eine Erinnerung, eine Geschichte, eine lebende und eine gestorbene zugleich. Ein Wort ist eine Scherbe und jeder muß sein Trinkgefäß selbst zusammensetzen. Die Wörter haben ihre Geschichten und die Geschichten ihren Himmel auf Erden; die einen Menschen nehmen wie ein Schwamm alles in sich auf, das Gute wie das Bittere, das Süße wie das Schlechte, die anderen lassen alles zum einen Ohr hinein und zum anderen hinaus, die Dritten merken sich die groben und starken Worte, die leisen bleiben ungehört; die Vierten verirren sich im Unklaren und lassen alle Klarheiten beiseite. Gibt es noch andere, die alle Töne sammeln, hören, ordnen und behutsam in Kopf und Herz mit ihnen umgehen, geduldig die eigene Schwermut verlachen?
   Wie denke ich, wenn ich mich erinnere? Wie frage ich, wenn ich weiß, daß ich keine Antworten bekomme. Wie antworte ich mir, wenn ich nicht einmal ahne, was ich wissen will? Wie lebe ich, ohne Fahrkarten und Platzreservierungen? Wie lange brauche ich, um Platz zu nehmen, Raum abzuschreiten? Wie erkläre ich mir das Böse, das geschieht und wie die anderen Menschen? Die Dinge und das Leben sind nicht mehr geheimnisvoll, alles ist erklärbar und feststellbar. Das Böse gibt es nicht. Das Böse sind Mechanismen, Eitelkeiten, Wut, Wichtigtuereien. Ich bin wer, zeigt da einer dem anderen und schlägt ihn, tritt mit Stiefeln, verhaftet, deportiert oder läßt ermorden. Ich bin niemand, läßt einer den anderen leiden, mit allem Haß seines Körpers, wegen eines versehentlich eingenommenen Platzes, eines anderen Ganges wegen, erbarmungsloser Haß, um Leben zu vereiteln, Gedanken zu verhindern, Großzügigkeiten, Gesten und Gefühle.
   Sehnsüchtigkeit ist es, Verborgenheit zu suchen oder die rechte Wange hinzuhalten, wenn die linke geschlagen wird. Sie schlagen auch die rechte Wange. "Es ist vergeblich, für sie zu leben und für sie zu sterben. Sie sagen: er ist ein Jude." Das schreibt 1921 Jakob Wassermann, ein heimatloser deutscher Inländer.
   Bleibt also Weglaufen und Zurückkommen, Emigrieren und bleiben: Am schönsten ist es unterwegs. Das ist dann die jüdische Pointe. Was die Juden zu ihrer Heimat brauchten, hatten sie lange Zeiten immer mit sich, wenn nötig im Fluchtgepäck. Ob in Ratibor, Breslau, Leipzig, Berlin oder in Liverpool, Los Angelas und Pasadena, die Kerzen zum Schabbesbeginn werden immer am Freitag, spätnachmittags, entzündet. Es gibt sehr kleine Leuchter und sehr kleine Kerzen. Der Gedanke, daß Heimat auch Land und unverrückbarer Besitz bedeuten kann, kam erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts auf. Das portable Vaterland bestand aus Lebensart, Traditionen und religiösen Überlieferungen.
   Fünfhundert deutsche Werbeagenturen suchten einen Slogan für die Kampagne deutscher Zeitungsverleger "Miteinander reden": Mit Jürgen, mit Luden, mit Türken und Juden. Das war der preisgekrönte Spruch. Aber mit welchem Jürgen rede ich Jude. In meiner Familie gibt es keinen Jürgen, keinen Türken, wohl auch keinen Luden und statt eines Türken einen Hamburger Burmesen, auf dem Emigrationsweg in Burma geboren. Türkische Juden, namens Jürgen, die im Beruf als Luden arbeiten, könnten als multipel ausgegrenzte Menschen mit sich selbst und miteinander reden.

   Scarlett O'Hara tanzte in ihrem Apfelgrünkleid auf einem Sommerball, als Bertha Zuckerkandl 1884 geboren wurde, eine jüdische Journalistin aus Wien. Ihre Erinnerungen werden in Stockholm veröffentlicht, nicht in Deutschland. Ein Beispiel von vielen. Aber warum soll das, was Frau Zuckerkandl erinnert, wichtig sein?
   Die Mörder der Nazizeit töteten nicht nur, sie raubten vielen Künstlerinnen, Journalisten, Schriftstellern, Schauspielerinnen ihr Recht auf Andenken, auf Arbeit; sie raubten den Menschen die Würde, die Habe, die Orte und Wege und jede Chance ihren Fähigkeiten entsprechend zu leben und zu lieben. Egon Hurgarowitsch und seiner Frau, den Wohlraths, den Böttchers, den Müllers und Wolffs aus Leipzig und Berlin.
   Das Nazi-Regime verbannte und ermordete, aber es war das "neue" Deutschland, daß sie alle gründlich in der Vergessenheit hielt. Ein Schlußstrich wurde vom Nationalsozialismus und den nachfolgenden deutschen Staaten gezogen unter gelebtes jüdisches Leben, unter kulturelle Selbstverständlichkeiten, auch unter die, als Jude nicht jüdisch lebten, sondern deutsch, links, in Leipzig, protestantisch, national gesinnt, mit Heimatliebe als Seelenverfassung, mit Pessach und Tannenbaum, antisemtischem Selbsthaß und der Begierde geliebt zu werden, wenigstens anerkannt. Oder wenigstens den anderen Deutschen das Gefühl von Einheit und Geschlossenheit zu vermitteln, als Jude. Wenigstens das.
   Übt Gott an den Juden das Zerbrechen? Nein, wer wäre er dann? Ein vorstellbarer Gott. Oder: "Ein Jude ist genau wie die anderen, nur alles ein bißchen mehr", sagt Shaw, doch diese Definition läßt sich auch auf die Deutschen oder auf die Dichter anwenden. Aber das stimmt, eine Rolle, eine Frage wird den Juden aufgedrängt: Was ist ein Jude? Und die Antworten sind so unterschiedlich, weil es nicht der Glaube, nicht die nationalsozialistische Rassendefinition ist, nicht der nationale Stolz.
   Erzogen wurde bin ich bis zum 14. Lebensjahr protestantisch und jüdisch. Das Jüdische war alles, was nicht ausgesprochen wurde, das verdrängte Unglück, die verlorenen Selbstverständlichkeiten einer Leipziger Familie, waren die Reisen ins Ausland zu Verwandten, die aber nicht mehr deutsch sprechen wollten, war Viktor, mein Bruder, mein halber Bruder, über dreißig war ich, als ich erfuhr, daß es ihn gab. Als Kind versteckt in den Niederlanden, in einem winzigen Dorf, in der Synagoge dort, Versteckter, Überlebender, sehnsüchtig danach kein Jude zu sein. Damit aber aufzuhören, Jude zu sein, scheint unmöglich. Warum? Weil es ist, wie ein Mensch fühlt, spricht und sich bewegt? Oder: daß ich werde, wie ich selbst bin, optimistisch und keine andere, die ich vielleicht sein wollte und wie es vielleicht auch einfacher wäre und verlockender? So bleibt die Frage, wie binde ich anders mir die Schnürsenkel? Denn woher sonst will wer wissen, daß ich eine Jüdin bin? Wo es meine Mutter nicht gewußt hat und nicht wissen will und meine Großmutter in aller Selbstverständlichkeit ihre Regeln gelebt hat.
   Doch ganz ungefragt wie in das Leben selbst wurden sie in die jüdische Zwangslage gebracht, die war nicht weg zu lügen, nicht die Hilflosigkeit, nicht die Bedrohung der Selbstachtung. Glück hat meine Mutter gehabt, daß sie überlebte, aber sie hätte sehr viel mehr Glück gebraucht, um in Leipzig wieder Zuhause zu sein und eine Zukunft zu leben. Um sich und auch mich nicht im Stich zu lassen.
   "Sie sind jüdischer Herkunft?" fragen mich Bekannte und Fremde, mit einem Lächeln, wenn ich mich mit wenigen Sätzen aus der Familiengeschichte zu erkennen gebe. Das Wort Jüdin mögen sie nicht in den Mund nehmen, das ist tabu, das ist ein Opferwort. Kluge Leute sind sie, die Auschwitz und Sachsenhausen besucht und dort in all ihrer deutschen Geschichtsscham geweint haben, obwohl sie niemanden in den Gaskammern verloren haben, die fassungslos aufseufzen über die Gewalttätigkeiten und Umfrageergebnisse in der neuen deutschen Republik, über die neuen linken und rechten Nationalisten.
   Das Wort Jude oder Jüdin bringen sie auch nach längerem Reden nicht über ihre Lippen. Aber sie diskutieren israelische und palästinensische Politik und rechnen die Taten der Israelis mit denen der Nazis auf. Und sie denken laut darüber nach, warum deutsche Juden Opfer wurden, warum Juden überhaupt, und was diese Menschen getan haben, um massenhaft und einzeln ermordet zu werden.
   Linke Intellektuelle loben den Warschauer Aufstand und rechnen ungefragt vor, wie es gewesen wäre, wenn jeder zur Deportation aufgelistete erwachsene deutsche jüdische Mensch einen SS-Mann oder Wächter getötet hätte.
   Ich frage mich, wie zwei meiner Onkel, freundliche und bescheidene Männer, dazu kommen, ihnen unbekannte Menschen in Uniformen zu erschlagen. Menschen, die für sie den respektierten Staat verkörperten. Dies hätten ja auch die Nachbarn tun können, die Arbeitskollegen, die sahen wie die beiden Onkel verachtet, eingefangen und abtransportiert wurden. Das erste Mal kamen sie wieder frei, weil sie respektierte Bürger Leipzigs und Berlins waren. Das zweite Mal wurden sie mit ihren Frauen und Kindern abtransportiert.
   Eine Freundin, die mich das erste Mal besucht und sagt, daß sie mich kennen lernen will und daß sie früher in der DDR auf keinen Juden je getroffen ist, fragt mich als erstes, wie hältst du es mit dem Staat Israel und seiner Politik? Sie weiß, was die Israelis zu tun hätten. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß es gut ist, wenn es ein Land gibt, in das Juden flüchten können, aber Fremde wären diese Flüchtlinge dort und zu suchen hätten sie in Israel nichts. Außer die allerletzte Zuflucht.
   Ich stelle mich der Diskussion nicht. Ich stelle mich tot, wie meist und versuche nur freundlich zu erklären, warum es Israel gibt. Ihrem Gesicht sehe ich an, daß sie nicht versteht.
Einen Tag später sagt diese Frau und sie meint es entschuldigend und freundlich: "Zu Juden fallen mir nicht einmal die richtigen Fragen ein." Und dann erzählt sie mir, daß es in ihrer Stadt eine neu renovierte Synagoge und ein jüdisches Museum gibt. Ohne nachzudenken, fühle ich den Satz: Und früher gab es dort eine der größten lebenden jüdische Gemeinden. Aber ich sage nichts. Ich stelle mich lieber tot.
   Ich besitze ein einziges Foto meiner Großmutter. Sie sitzt aufrecht auf einem großen Stuhl mit Armlehnen. Das Kleid hochgeschlossen und lang. Keß hat sie einen weißen Kragen um den Hals gelegt. Die Beine übereinandergeschlagen. Schräg sitzt sie in dem Stuhl, eine Hand liegt ruhig auf ihrem Knie. Mit dem anderen Unterarm stützt sie sich leicht auf die Armlehne. Sie lächelt. Als wüßte sie alles. Ihr Gesicht hat Ähnlichkeit mit meinem Gesicht, aber so ruhig und bestimmt habe ich nie gelächelt. Ich war immer aufgeregter und unsicherer, weiß nicht, was das Unverlierbare in meinem Leben sein könnte. Meine Würde finden und behalten lernen. In Herzlichkeit, liebend und in Frage stellend.
   Meine Großmutter war eine große stattliche Frau; vierundvierzig ist sie auf dem Bild eines Leipziger Fotografen. Das letzte Bild von ihr. Neunzehnhundertvierzig stirbt sie. Vier Wochen nach ihrem viel älteren Mann. Sie stirbt zur rechten Zeit ihren eigenen Tod. Sie ist Jüdin.
Mein Großvater ist Protestant und ein überzeugter Monarchist. Er flaggt an seinem Leipziger Haus niemals die Hakenkreuzfahne, auch nicht unter Strafandrohungen des Straßenwartes. Er grüßt niemals mit erhobenem Arm und sagt niemals Heil Hitler. Nicht weil er ein mutiger Mann ist, sondern weil er sich mit seinen sechsundsechzig Jahren nicht sagen lassen will, was er zu tun und zu unterlassen hat.
   Mein Großvater ist stolz auf sein Deutschland. Er ist konservativ, aber im besten Sinne und allem Neuen gegenüber aufgeschlossen. Er liebt meine Großmutter in zärtlicher Distanz und mit großem Respekt. Er führt sie jeden Sonntag aus. Er trägt, seit er sie kennt, ihr Bild an einer langen goldenen Uhrkette in seiner oberen Westentasche. Er achtet sie als die jüngere und tüchtige Frau, die das Haus verwaltet, mit seinen acht Wohnungen, keine unter hundertfünfzig Quadratmeter. Die den großen Haushalt mit zwei älteren Tanten und Dienstmädchen führt; am Tisch sitzen abends selten weniger als sechzehn diskutierende und essende Menschen. Die überall, in der Kohlenhandlung im Hinterhof, im Kolonialwarenladen im Hochparterre, im riesigen Garten und auch in der Straße, nach dem rechten sieht, hilft, Geld gibt, Kartoffeln verteilt.
Sie ist eine lebenslustige Frau, eine, die gerne ißt und lacht und die ihre Eleganz und Vornehmheit niemals gegen andere wendet. So wird mir von ihr erzählt. Daß sie Jüdin ist, daß alle Frauen in dieser sehr großen Verwandtschaft Jüdinnen sind, wird mir nicht erzählt. Es wird mir verschwiegen. Die Scham ist es, die ich als Kind erlebe; die Scham über die verlorene Selbstachtung. Die Scham ist wortlos; es gibt keine Geschichten, die erzählten Erinnerungen enden 1940 und beginnen voller Lücken 1946, 1948, 1950, nach dem Bau der Mauer und dem Weggang oder Flucht aus der DDR. Nach den ersten armen Jahren im Westen. Erst seit der Wende gibt es kleine alte Geschichten und Erinnerungen.
   Von der Großmutter wird immer noch gesagt: "Sie ist zur rechten Zeit gestorben." Und Großvater auch. Beide innerhalb von vier Wochen. Erzählt wird, daß Großmutter, eine geborene Böttcher, eine verwitwete Wohlrath, alle Söhne und Töchter, verheiratet oder nicht, alle Verwandten, die nicht wußten wohin, die nicht emigriert waren oder nicht flüchten wollten, im Haus, in ihrer Wohnung aufnahm, versorgte, sich um Papiere und Stempel kümmerte. Es wird erzählt, daß sie einen Mittagstisch einrichtete für alle in der Straße, die nichts oder viel zu wenig zu essen hatten, daß sie eimerweise die Kartoffeln und Kohlen zu den armen Familien trug. Zu deutschen Christen und deutschen Juden.

   Meine Großmutter, aus einer Leipziger Kaufmannsfamilie stammend, hat drei Kinder aus der ersten Ehe, die werden von den Rasseideologen als Volljuden identifiziert. Mein Großvater hat zwei Töchter und drei Söhne aus seiner ersten Ehe, die werden, da die Mutter als Halbjüdin eingestuft wird, und mein Großvater nur eine jüdische Urgroßmutter in seiner Ahnenreihe aufweist, als verdächtige Subjekte, aber für die deutsche Volksgesundheit als noch erträglich hingenommen. Sie emigrieren und flüchten dennoch alle.
   Meine Mutter wird als letzte in diese große jüdisch-protestantische Familie und Verwandtschaft hineingeboren, die nicht gläubig, nicht religiös ist. Sie gilt den Nationalsozialisten nach den Rassegesetzen als verfolgungswürdige Halbjüdin. Da die Großeltern beide neunzehnhundertvierzig sterben, viele der Brüder und Schwestern geflüchtet sind, wenige Verwandte in geborgten Idenditäten überleben und die, die bis zuletzt an ihr Deutschland glauben, deportiert und ermordet werden, steht meine Mutter mit achtzehn Jahren allein in der großen Wohnung in Leipzig, Idastraße. "Mutterseelenallein", sagt sie und weint heute noch. Kein Schulbesuch war möglich, keine Arbeit, kein Geld, kein Essen; die Leute in der Straße zeigten mit Fingern auf sie, die von der Großmutter verschenkten Lebensmittel hatten nichts Gutes bewirkt. Manche rieben sich die Hände über den tiefen Fall.
  Ein Vormund wird für meine Mutter bestellt. Meine Mutter darf noch wohnen und am Leben bleiben. Die Behörden vergessen, das Haus zu arisieren. Die Behörden vergessen für Wochen, daß eine Jüdin zweihundertzehn Quadratmeter bewohnt. Meine Mutter trägt den gelben Davidsstern nicht. Der Hauswart warnt, aber denunziert sie nicht.
   Eine arische Cousine gibt meiner Mutter ihre Papiere. Sie haben beide rote Haare, die wichtigsten äußeren Merkmale stimmen überein. Meine Mutter, diese junge Frau, verwandelt sich in eine andere. In Sicherheit ist sie nie. Auch nicht in Berlin, am Großen Müggelsee.
Meine Mutter will, daß ich in Leipzig, in der Idastraße geboren werde. Aber so wird es nicht sein. Und wie es wirklich war, werde ich erst erfahren, als die Mauer gefallen ist. Und das ist eine Geschichte, die ich nicht erzähle. Keinen Ohren.
   Ende 1945 leben meine Mutter und ich im Haus der Großmutter, in der alten Wohnung, in den Zimmern hinter der Küche. Die Wohnung ist belegt von zwei Frauen, deren Männer zur SS gehörten. Die Frauen sind immer noch stolz auf ihre Männer und fürchten sich vor den Russen. Meine Mutter verbrennt die SS-Uniformen.
   Die Leute im Haus sagen zu meiner Mutter: "Die kleine Frieda ist wieder da." Sie geben ihr die Hand, beteuern, daß sie sich gekümmert hätten, um Haus und Hof und die Miete würden sie vorbeibringen, wie früher und mit dem Mietbuch.
   Sie fragen nicht: "Frieda, wo warst du denn?" Oder sie sagen nicht: "Kleine Frieda, ein Glück, daß du lebst." Sie verlieren auch kein Wort darüber, daß Namensschilder im Haus überklebt sind, daß viele Nachbarn nicht mehr in der Straße wohnen.
   "Weggezogen sind sie", sagen die Leute. Geholt worden sind sie. Zur Arbeit. Tot sind sie, ermordet, vergast und verbrannt. Asche sind sie oder Seife oder eine Wolke am Himmel. Was weiß Frieda? Nichts weiß sie.
   Meine tüchtige Mutter macht sich nach meiner Geburt auf die Suche nach ihren Brüdern und Schwestern. Sie findet die Überlebenden in Hamburg, im Schwarzwald, immer noch wie versteckt lebend, leise atmend, leise gehend. Kein lautes Wort. Überempfindlich für die Freude und fürs Leben. Sie findet sie im Erzgebirge, in Thüringen, in Vorpommern, Mecklenburg und Polen, in Frankreich, England und den Niederlanden. In Amerika und Österreich. Mit falschen Papieren, fremden Namen, absichtlich kein Deutsch mehr sprechend. Müller und Miller heißt die Hälfte der Familie nun. Ein Tarnname.
   "Warum lebst du in Deutschland?" wird meine Mutter von den Emigrierten, Geflüchteten und Überlebenden gefragt. "Geh mit dem Kind weg."
   "Ich bin Deutsche", sagt meine Mutter. "Wir waren nie Juden, bis die Nazis uns dazu gemacht haben." Sie sagt: "Leipzig ist meine Heimat. Das Haus ist alles, was uns geblieben ist. Ich werde es nicht aufgeben. Das Kind soll es erben. Das Kind soll in Leipzig aufwachsen, ein Zuhause haben und eine Heimat. Das Kind gehört nach Leipzig. Und ich auch. Die schönsten Erinnerungen habe ich an Leipzig." Der Beginn einer Reihe von Selbstrechtfertigungen. Diese fatale Neigung habe ich fortgeführt, auf Widerruf akzeptiert fühle ich mich und ziehe den Kopf ein, fühle mich hilflos, immer auf die Probe gestellt, immer mit der Idee im Kopf, ich muß es besser machen. Immer ein bißchen auf der Flucht und mit aller Sehnsucht. Aber wonach?
   Meine Mutter reist mit falschen Stempeln und Pässen durch die Zonen, denn die Russen geben ihr keine Ausreisepapiere aus der sowjetisch besetzten Zone, die Behörden geben ihr keine neuen Papiere. Offiziell gab es meine Mutter nicht mehr, weil sie ihre eigenen Papiere nicht mehr besaß und das Leipziger Standesamt sie gestrichen hatte. Auch meine Geburt wurde nur vorläufig beurkundet.
   Auf ihren Reisen sucht meine Mutter nach verschwundenen Menschen, verloren gegangenem Besitz und einer Familie, die es nicht mehr gibt. Mich läßt sie zurück. In Leipzig. "Anders geht es nicht", sagt sie. "Anders ging es nicht", sagt sie immer noch.
   Von jeder Reise kommt sie ratloser und erschöpfter zurück. Sie versteht nicht, was sie erlebt hat und niemand erklärt der jungen Frau, warum ihre Familie, ihr Zuhause nicht mehr existiert. Alle, auf die sie trifft, sitzen auf gepackten Koffern, sind auf der Suche nach neuen Orten, Arbeit und der Entscheidung, in welchem Land sie leben wollen. Unsicherheitsgefühle, Rechtfertigungen, Selbstzweifel prägen meine Mutter und mit Zentnergewichten an den Füßen und Tausenden von bis heute unausgesprochenen Worten geht sie durch ihr Leipzig, das fremd ihr und fremder wird. Die kleine Frieda kommt nicht an.
   Meine Mutter erreicht die Freigabe ihrer Wohnung, arbeitet bei einer Zeitung und begreift nicht, daß es niemand kümmert, was geschehen ist, es keine Aufregungen unter den Menschen gibt und noch weniger kümmert, was ihr geschehen ist.
   Sie versucht die Rolle meiner Großmutter einzunehmen; das mißlingt. Ihr fehlt die Ruhe der Tradition, die Sicherheit, die Gelassenheit. Ihr fehlen auch die helfenden Tanten, das Geld und die sonnabendlichen Treffen der ganzen Familie, bei denen gesungen, gegessen, diskutiert und einander geraten wurde. Niemand stand allein im Leben. Geriet einer der Brüder in Mißlichkeiten, halfen ihm der Großvater oder die anderen Verwandten, lief etwas schief, taten sich alle zusammen und überlegten laut und leise. Die kostbaren Taschenuhren der Brüder wurden von den Großeltern, heimlich voreinander, immer wieder bei der Pfandleihe ausgelöst.
   Aber seit 1940 zündet Freitagsabend niemand zwei Leuchter an, reicht ein Glas Rotwein herum, streut Salz auf das Brot und singt ein leises Lied und spricht ein Kaddisch. Für niemanden war das Religion, das waren gute Gewohnheiten. Nach dem Essen saßen die Männer im Herrenzimmer und redeten leise und die Frauen der Familie redeten laut. Und wer immer auch klingelte, war willkommen. So soll es gewesen sein. Manchmal kam auch der kleine Moses mit Brille und wußte alles besser. Im obersten Stock wohnte er mit seinen Eltern und half im Laden unten aus. Der einzige gläubige Jude im Haus, der einzige, der alle Regeln kannte, die das Leben regeln. Genutzt haben sie ihm nichts. Erschlagen haben sie ihn auf der Straße, als er Ware austrug.
   1945: Meine Mutter und ich, wir hungern. Sie ist für jeden Schwarzhandel und Tausch zu stolz. Ich kann ihr erst helfen, als ich alleine loslaufe. Ich bettle alle an, starre ihnen auf Brotkanten, Wurst und die Äpfel, bis ihnen die Bissen im Hals stecken bleiben und sie abgeben. Bis dahin übernimmt eine Halbschwester meiner Mutter die Geschäfte, die nötig sind, damit wir mehr als geröstetes Sägespänebrot und faule Kartoffeln zu essen haben. Sie zaubert aus einem alten Silberbesteck einen Kinderwagen für mich, Mehl, Zucker und für sich Zigaretten.
Meine Tante findet sich in den neuen Zeiten zurecht, ordnet sich mit einem spöttischen Lachen ein in die Reihen der Arbeiterklasse. "Jetzt sind die Leute eben alle Arbeiter und Bauern", sagt sie, "vorher waren sie gläubige Volksgenossen."
   Diese ältere Halbschwester, emigriert, nachdem sie ihren Verlobten im Widerstand verloren hat, war wegen meiner Mutter nach Leipzig zurückgekommen. Kümmern will sie sich um die kleine Frieda und ihr Kind, aber sie und meine Mutter geraten immer wieder in Streit, über die neuen Verhältnisse,    das neue System.
Meine Tante nimmt die Zeiten wie sie sind, macht das Beste aus der neuen Ideologie, beschließt sich in diesem deutschen demokratischen Staat einzurichten. In Gottes Namen. Die alten Zeiten waren vorbei, hüben wie drüben. Die Böttchers und Wohlraths, die Blumenthals und Fischmanns gab es nicht mehr, kein Wunder, dem einer leise die Hand hinhalten könnte und es setzte sich ein Vogel.

   "Vielleicht meinen sie es wenigstens mit dem Antifaschismus ernst", sagt meine Tante und heiratet weit ab von ihrer eigenen Geschichte einen Werktätigen, einen liebenswürdigen Mann, für den ich Jahre später, als Sechzehnjährige, Tabletten aus der Schweiz in die DDR schmuggeln werde und der mir viel erzählt von der Welt jenseits der Mauer, die er nie gesehen, von der er nur gelesen hat. Denn in seinen jungen Jahren erlebte er den Krieg in Rußland, die Schlammwege auf einem Krad, die Kälte vor Smolensk.
   Meine Tante hat Erinnerungen an viele Jahre Familie und gute Gewohnheiten, meine Mutter hat nicht genügend Erinnerungen an die guten Zeiten der Familie. Sie findet keinen Platz für sich in der neuen Gesellschaft. Sie hadert, keine runde Sekunde findet sie, keinen Stuhl, um sich hinzusetzen und auszuruhen.
   Sie beginnt einen Krieg mit den Ämtern und neuen Funktionären, um das Haus, Papiere und Entschädigungen für jüdischen Besitz. Sie verliert. Sie gilt als ein gesellschaftlich unzuverlässiges Subjekt, als eine Bürgerliche. Sie verliert ihre Stelle bei der Zeitung, sie schlägt sich als Buchhalterin durch, sie ist unzufrieden; sie mag mich nicht, sie redet nicht mit mir. Ich erinnere sie an schlechte Zeiten.
   Ich werde nicht in Leipzig aufwachsen, nicht im Haus der Großeltern. Meine Mutter, die keine Papiere und Visen erhält, wieder einmal nicht, flüchtet mit mir, ich bin zehn, über Bad Brambach in die Tschechoslowakei und weiter nach Markredwitz in ein bayrisches Lager. Nach zwei Wochen verlassen wir auch dieses Lager ohne Genehmigung bei Nacht. Einen Rucksack schleppt meine Mutter und einen großen hölzernen Koffer. Den Fluchtkoffer. Ich habe ihn heute noch.
   Später fährt meine Mutter Sommer für Sommer von mühselig zusammengespartem Geld in den Bayrischen Wald, in den Harz, auf den Brocken. In irgend ein kleines Dorf, dicht an der Grenze. Jeden Tag gehen wir bis an die Grenzstreifen, so nah wie möglich, sitzen im Gras und meine Mutter schaut zu den Wachtürmen, schweigt, weint, sagt: "Mein Kind, wären wir nur in Leipzig geblieben. Die Flucht hat uns kein Glück gebracht." Ich tröste sie und weiß nur, daß sie immer noch glaubt, irgendwohin zu gehören. Und das Irgendwohin liegt jenseits der bedrohlichen Grenzen. Ich weiß nicht, was sie verloren hat. Das sagt sie mir nicht. Später spricht sie nie mehr von diesen Sommern und ihrer Sehnsucht nach einem ganz anderen Leben und der verlorenen Familie. Später unterwirft sie ihr Leben einer strengen pedantischen und lebensfeindlichen Ordnung, einem Zwang zur Sauberkeit und starren, weit voraus geplanten Tagesabläufen, in die ich mich einfügen muß. Ein Entkommen gibt es nicht, ein Reden auch nicht. Keine Geschichten.
   Mir ist die ungestillte und unstillbare Sehnsucht geblieben dazugehören zu wollen. Zu einem Ort, einer Landschaft, einer Familie, einem Menschen. Das ist die verletzbare Stelle meines Lebens. Und in diesem Punkt bin ich immer verführbar und erpressbar geblieben. Genug ist nie genug und die Ratio verliert seit Kinderzeiten gegen alle Selbstrechtfertigungen.
Wer mir Familie anbietet, kann mit mir rechnen. Wer mir seine Heimat und die Ausblicke darin schenkt, zu dem gehe ich. Wer mir seine Augen gibt, um eine Landschaft zu sehen, den sehe ich an. Ich möchte schnell Wurzeln schlagen. Ich kann schnell Wurzeln schlagen, mich in fremde Umstände hineinfinden, mich zu Hause fühlen, mich in Landschaften hineinschauen, neue Gewohnheiten und Menschen und Sprachen annehmen. Ich brauche lange, fast zu lange, um anders mit mir umzugehen.
   Ich bin zweiundzwanzig Mal umgezogen. Ich lausche jedem Zug sehnsüchtig nach, als führe er dorthin, wo ich hin müßte. Ich schaue gern in die Ferne, übers Meer, an die anderen Ufer. Wenn ich reise, bin ich neugierig auf der Suche und mit ganzem Herzen und Kopf unterwegs. Und habe doch das Gefühl im falschen Zug zu sitzen und daß mit jeder Station die Rückreise länger wird. Aber das ist eine alte jiddische Geschichte. Es geht immer um den Weg und nicht um das Ziel.
   Ich verharre entweder ruhig, um nicht aufzufallen und um mir zu beweisen, daß ich einen Ort gefunden habe, an dem ich bleiben kann oder ich bin unterwegs, in Bewegung, auf der Suche nach Heimat, die für mich nicht ein Ort ist. Für mich ist Heimat Tradition, die Lebensart, ein paar religiöse Überlieferungen. Vor allem den Lebensstil, den kann ich überall hin mitnehmen. Und zwei Kerzen zum Schabbat. Aber manchmal sehne ich mich nach dem Gefühl, nach Hause zu kommen, zu Hause zu bleiben, ruhig zu werden, sitzen zu bleiben. Dann bin ich noch erpressbarer und lebe Gefühle, viel zu viele Gefühle. Immer viel zu viele Gefühle. Dann möchte ich weglaufen und zurückkommen. Weglaufen, damit ich zurückkommen kann. Zurückkommen, damit ich nicht mehr unterwegs bin.
   Heimat ist für mich keine geographische Größe, auf keine Stelle der Landkarte möchte ich den Finger legen: Heimat ist eine seelische Verfassung, ist der Versuch, die eigene Tradition zu bewahren, die Auffassung vom Leben konsequent zu leben und die innere Balance zu halten, gleich unter welchen äußeren Umständen.
Ich habe eine Heimat, aber ich kann keinen Finger auf die Landkarte legen und sagen, da ist sie. Es ist die Prinsengracht in Amsterdam und der Michel in Hamburg, es sind die feuchten westfälischen Wiesen und Felder mit ihren Nebelschwaden zu allen Jahreszeiten und die Straßenbahnfahrt von der Idastraße zum Augustusplatz, es ist der Gang in Rostock an der Warne längs und das Schlendern durch das alte Scheunenviertel in Berlin. Es sind die Bücher der Bachmann und der Aichinger, die Filme aller deutscher Emigranten aus Hollywood. Es ist der Fischgeruch an der Lawerzee und der süsse Duft des blühenden Ginsters im Luberon und den Cevennen. Es ist das leichte Lachen und Erzählen bei Festen mit Freunden, das Brotbrechen und Essen.
   In Fotoalben, die ich erbe, im Familienalbum, fehlen Bilder. Es fehlen Bilder, die herausgenommen und es fehlen Bilder, die nie fotografiert wurden. Herausgerissen wurden immer die Bilder der anderen, der jüdischen Verwandten oder der arischen Verwandten. Und die Bilder, die den Chanukkaleuchter zeigen oder zwei brennende Kerzen am Schabbat.
   Nicht fotografiert wurden die Abreisen ins Ausland, die letzten Familienfeste und Geburtstage. Keine Fotografien gibt es mehr nach 1940 von meiner Mutter und anderen in Deutschland, England und den Niederlanden lebenden, überlebenden Geschwistern und Verwandten. Es fehlen die Porträtaufnahmen, die jedes Jahr beim Fotografen bestellt wurden und es fehlen die Fotografien von kleinen und neugeborenen Kindern auf Bärenfellen. Es gibt von 1939 bis Kriegsende keine Geburten mehr. Später fehlen dann auch die Familienfotos. Da gibt es keine liebevoll arrangierten und gestellten Aufnahmen mit allen Brüdern, mit allen Frauen der Verwandtschaft, mit den Kindern.
   Ich löse zwei Haushalte auf und stoße auf verschnürte Briefbündel, Papiere, Tagebücher. Ich entdecke, daß Briefe fehlen und Tagebücher mitten in Gedanken und niedergeschriebenen Sorgen und Ängsten abbrechen. In jedem der Haushalte findet sich ein Chanukkaleuchter, im Wohnzimmerschrank stehend, nicht auf der Anrichte. Ist die Angst geblieben, sich als Jude zu erkennen zu geben, die jüdischen Traditionen zu leben? Ich kann nicht mehr fragen. Ich weiß nur, daß meine Mutter die Anpassung um jeden Preis wollte. Ich sollte nicht auffallen, nicht erkennbar sein.
   Nach der Flucht aus der DDR und im Westen läßt sie mich protestantisch taufen. Sie erzieht mich nicht evangelisch, aber sie schickt mich in die Christenlehre und ist froh, daß ich mit dreizehn und vierzehn gerne jeden Sonntag in die Kirche gehe. Ich singe im Kirchenchor. Ich gehöre gerne in diesen beiden Jahren zu dieser Gemeinschaft mit ihren Ausflügen und kleinen Festen im Gemeindehaus dazu. Meine Mutter läßt mich auch konfirmieren. Sie wählt für mich einen Spruch aus dem Alten Testament aus: "Fürchte dich nicht, liebes Land Israel, sondern sei fröhlich und getrost; denn der Herr kann auch große Dinge tun." Aber was hätte der Herr denn für mich tun sollen? Welche Dinge, bei denen ich nicht selbst Sorge tragen kann. Niemand hat mir gesagt, was ich tun soll, und doch glaube ich, daß meine Freiheit die ist, meine Arme und Finger auszustrecken zu einer Zukunft, die in der Zeit nicht erreichbar ist. Auf der Schwelle leben, leidenschaftlich.
   Mein Konfirmationsfest mißlingt. Wir sitzen wie so oft zwischen gepackten Umzugskartons und fast ohne Möbel. Die älteste Schwester meiner Mutter will, daß ich eine schöne Konfirmation feiere. Sie läßt in einem feinen Restaurant ein Essen ausrichten. Sie kommt zwei Tage früher. Sie kauft mir einen Ring. Sie schenkt mir ein in Silber eingebundenes Sidur, ein jüdisches Gebetbuch. Ich fange an zu fragen. Ich erfahre, ohne zu begreifen, was mir erzählt wird, daß die meisten der am Tisch sitzenden Verwandten, Juden sind, die Geschwister meiner Mutter. Sie stellt sich tot. So wie ich es noch oft tun werde.
   Diese älteste Schwester meiner Mutter sagt: "Eines Tages werde ich nach Israel fahren." Mit fünfundsiebzig und nach dem Tod ihres Mannes fährt sie nach Jerusalem und Tel Aviv. Sie fährt mit dem Zug durch Italien und mit dem Schiff weiter. Sie sagt: "Ich will sehen, was die anderen gesehen haben." Die anderen sind die, denen es gelungen ist, nach Israel zu flüchten. Sie besucht eine Cousine und deren Kinder. Sie fährt in den fünf Jahren, in denen sie noch lebt jedes Jahr nach Israel und gibt mir Geld, damit ich auch dorthin fahren kann. Mit dem Zug, mit dem Schiff.
   Ich werde konfirmiert, aber ich gehe nicht mehr zum ersten Abendmahl und damit bin ich draußen aus der Gemeinschaft der Christenkinder. Ich will aus der Kirche austreten, aber meine Mutter verweigert ihre Zustimmung. Ich entdecke, daß sie nicht in der Kirche ist und auch nie war, obwohl sie es behauptet hatte. Als ich volljährig bin, trete ich aus der evangelischen Kirche aus. Ich weigere mich nachzudenken.

   Mit Dreizehn schickt meine Mutter mich nach England zu Verwandten. Sie reden mit mir kein Wort deutsch. Nur meine Cousine hilft mir manchmal mit einer schnellen Übersetzung, wenn ich gar nicht mehr sagen kann, was ich sagen will. Sie nimmt ihren Urlaub, mietet ein Auto und fährt mit mir in den Lake Distrikt, nach Schottland, nach Wales und Cornwall. Sie schließt mich in ihr Herz. Als ich sie später immer wieder bitte, mich in Deutschland zu besuchen, übergeht sie diese Einladungen, als hätte ich sie nie ausgesprochen. Sie liebt mich, aber sie versteht nicht, warum ich in Deutschland lebe. Was jüdisch ist, weiß sie nicht. "Vielleicht die Lebensart, das Großzügige, das Lebendige", sagt sie.
   Im gleichen Jahr schickt mich meine Mutter in die Niederlanden zu Verwandten. Sie erklärt mir mit keinem Wort, warum sie mich in den Zug setzt und was ich bei diesen mir fremden Menschen soll. Ans, die Verwandte spricht kein Wort Deutsch mit mir, sie spricht überhaupt nicht mit mir. Ihr Mann, ein Niederländer, ist es, der mit mir redet, deutsch spricht und mir Amsterdam ein erstes Mal zeigt. Er bittet mich, seine Frau zu verstehen. Sie hätte zwei Jahre versteckt gelebt.
   Er geht mit mir in Amsterdam in die Synagoge. Er besucht mit mir Freunde seiner Frau, die Pessach feiern. Er erzählt mir von seiner Familie und daß er kein Jude ist, aber die jüdischen Feste liebt, das gemeinsame langsame Essen, das Reden, die leidenschaftliche laute Diskussion, die Hände, die durch die Luft fahren.
   In der Dämmerung des Freitags ist Ans, die Tante, noch schweigsamer als die Tage zuvor schon. Sie weist mich mit einer Handbewegung an, das Wohnzimmer zu verlassen. Während ich im kleinen und dunklen Flur warte, zündet sie die beiden Kerzen an, spricht einen Psalm, trinkt mit ihrem Mann aus einem Glas einen Schluck Wein. Erst dann darf ich wieder hereinkommen - und mit ihr essen. Sie erklärt mir nichts. Sie beschaut mich mißtrauisch.
   Als ich abfahre, in der Tür stehe, es ist ihr Mann, der mich zum Bahnhof bringt und mir zuwinkt, sagt sie mit kurzen Worten und in deutsch: "Du bist eine Jüdin. Merke dir das." Ich merke mir das nicht. Ich denke nicht darüber nach. Ich stelle mich tot. Wenn ich denken würde, müßte ich denken, daß sie meine Mutter und alle anderen umbringen wollten. Aber warum? Ich will das nicht denken. Bis heute nicht.
   Als ich sechzehn bin, besorgen Verwandte in der DDR in wochenlangen Behördengängen ein Visum zur Einreise für mich. Meine Mutter bekommt keines. Sie hat sich und mich nicht abgemeldet. Sie gilt immer noch als flüchtig. Ihre Akte ist gewachsen. Das Haus aber enteignet die DDR nicht, es steht unter staatlicher Verwaltung. Meine Mutter setzt mich in einen Zug nach Leipzig. Ich schmuggle Medikamente für einen Onkel und Papiere, alte Papiere und Testamente. Ich lese sie trotz strengsten Verbotes und obwohl ich sie danach und bis zur Grenze wieder verstecken muß. Da entdecke ich, den Namen Sarah vor den Namen Rosa Clara Frieda meiner Großmutter. Die Jüdin.
   Trotz strengster Kontrollen bringe ich wie aufgetragen alles über die deutsch-.deutsche Grenze. Die Papiere behalte ich mit meinem Visum und Ausweis in der Hand, die Tabletten werden zum Glück nicht entdeckt und das amerikanische Geld habe ich entgegen allen Ratschlägen in die Schuhe gestopft. Es ist Ende 1961. Die Mauer ist gebaut. Die Maschinengewehre sind geschultert. An der Grenze werden die Loks gewechselt, es geht weiter mit der Reichsbahn, langsam, im Schrittempo, mit einer gelben Schwefelwolke. Die Fahrt ab Grenze bis Leipzig dauert sechs Stunden. Am selben Tag muß ich mich beim Rat der Stadt Leipzig melden.
   Der kleine graue Beamte fragt nach langem Blättern und Lesen und Schauen: "Deine Mutter ist eine Republikflüchtige und eine Jüdin."
"Nein", antworte ich.
   "Sei bitte ruhig", sagt meine Tante Elisabeth, die längst nicht mehr an den Antifaschismus dieser deutschen demokratischen Republik glaubt, aber zurecht kommt und die elendiglichen Spielregeln bestens kennt und bestens sie beherrscht. Soll sein ist ihr Motto. "Und laß die Dummen marschieren. Nur die Dummen marschieren. Immer schon so gewesen. Menschen mögen nicht denken." Sie hat ja recht, ich denke auch nicht, verschiebe das Nachdenken über mich.
   Tante Elisabeth denkt an die Platte mit den belegten Broten, die es gibt nach zehn Jahren Schreibarbeit bei der Kohlenbrigade. Die will sie essen und Rotkäppchensekt trinken. An mehr will sie nicht mehr denken, mit mehr will sie nicht mehr rechnen.
   Das Grab der Großeltern will ich sehen. Das Grab der Großmutter. In Leipzig-Volksmarsdorf soll ich suchen, hat meine Mutter gesagt. Meine Tante schüttelt den Kopf, schaut mich lange prüfend an, begleitet mich, schweigt. Es gibt kein Familiengrab, es gibt kein Grab. "Eingeebnet haben sie es", sagt meine Tante, aber sie sieht mich bei diesem Satz nicht an und sie sagt auch sonst nichts mehr.
   Über dreißig Jahre später erst weiß ich, daß meine Mutter mich auf den falschen Friedhof geschickt hat. Ja, den Großvater hätte ich dort finden können, aber nicht im Familiengrab. Sondern nur eine kleine Tafel über einer Urne, ohne Hinweis auf seine Frau. Die Tafel war 1961 schon längst beseitigt, die Urne unauffindbar.
   Die Großmutter aber wurde 1940 auf dem neuen israelitischen Friedhof beerdigt. Ohne Grabstein und ohne die Steine, die zeigen daß sie ewig und ungestört liegen wird und wir Lebenden an sie denken. Sie hat bis zur Verwüstung des Friedhofs dort gelegen. Alleine und niemand konnte an ihrem Grab weinen und ein Kaddisch sprechen.
   Meine Tante lebt nicht als Jüdin. Sie will nicht von mir gefragt werden und nichts erzählen. Nichts von sich und ihrem Leben und nicht von anderen Verwandten in der DDR. Nur mir zuliebe und weil ich keine Ruhe gebe, lädt sie für einen kurzen Sonntagnachmittag einen Onkel, zwei Cousinen und eine angeheiratete Tante ein. Sie ist sehr unwillig, obwohl ich für den Kuchen Schlange gestanden und guten Kaffee besorgt habe.
   Sie kommen um drei Uhr, setzen sich um den Tisch und schauen mich an. "Du bist also Friedas Kleine", sagen sie und schweigen. Ich bitte sie vergeblich mir von den Großeltern und sich zu erzählen. Der Onkel winkt mich gegen Abend in die Küche, sagt: "Ich mache mich immer noch kleiner, als die anderen mich klein sehen wollen. Ich schlüpfe immer noch unter ihren Blicken durch. Ich passe mich an. Ich bin kein Jude mehr. Es gibt keine Juden in diesem Staat. Christen ja, aber keine Juden. Ein paar alte Männer, ein koscherer Schlachter in ganz Sachsen und Brandenburg zusammen. Wir sterben aus. Wer nicht vergast, wer vergessen wurde von den verbeamteten Mördern, der stirbt jetzt. Einen langsamen und leisen Tod."
   Der Onkel seufzt und der Seufzer klingt wie ein Zittern der Seele. "Ich schäme mich überlebt zu haben. Ich habe keinerlei Lebensart mehr." Dann geht der Onkel und redet nicht mehr mit mir. Und ich weiß auch keine Fragen mehr.
   Die Tante besorgt mir noch vier Mal Visen zur Einreise in die DDR, jedes Mal dauert die Genehmigung länger. Einmal, 1969 werde ich an der Grenze nach stundenlangen Kontrollen zurückgeschickt. Ohne Begründung. Das großelterliche Haus wird trotz mehrfacher Androhung der Behörden nicht verstaatlicht. In dem viele Aktenordner umfassenden Briefwechsel, den meine Tante und meine Mutter mit den DDRorganen geführt haben, taucht einmal und ohne begreifbaren Zusammenhang der Hinweis auf, daß die jetzigen Besitzerinnen und Erbinnen allesamt jüdisch seien.
   Neunzehnhundertsechsundsiebzig fahre ich das erste Mal nach Israel. Als meine Mutter davon erfährt, fragt sie: "Was willst du dort. Da hast du nichts zu suchen."
   Ich antworte ihr, "wenn ich überall fremd bin, kann ich mich auch dort nicht zu Hause fühlen." Ich weiß längst, daß ich mich im jedem Ausland auch deshalb wohler fühle, weil dann das Fremdsein legitim ist und ich mich nicht anstrengen muß, mich zu Hause zu fühlen.
   Gesucht habe ich in Israel nichts, aber viel gefunden. Die Selbstverständlichkeit und Vielfalt jüdischen Lebens und jüdischer Traditionen. Ich fiel nicht mehr auf, wenn ich mit den Händen redete. Das Lebhafte, das Reden in verkürzten Sätzen, das Laute, das Spielen mit Worten und Zurückfragen. Und alle waren Juden, gläubige und ungläubige, aus aller Welt und die meisten der Älteren anderswo zu Hause gewesen. Meine Geschichte war keine besondere mehr, war leicht zu erzählen, soweit ich sie damals schon wußte. Und fürchten und schämen mußte ich mich nicht. Und alle redeten mit mir. Und ich fand die wunderbare häusliche geordnete Unordnung meiner Tante Hannah wieder, bei der ich die halbe Kinderzeit verbrachte. Das Reden, das Geschrei und die dominierende Unvernunft, die unverbesserliche Unvernunft.
   Dieses ordentliche Chaos allein ermöglicht es, daß jeder jederzeit willkommen ist und jeder immer ein Essen bekommen kann, ein Reden und Platz zum Hinsetzen und Ausruhen. Ich habe immer einen Topf Suppe stehen. Und wer klingelt, kann hereinkommen und sagen wie es geht oder laut in Frage stellen, daß die Erde eine Kugel ist.
   Bin ich nur deshalb Jüdin, weil es Antisemitismus gibt, weil andere Deutsche mich ausgrenzen, mit Worten und dem Finger auf mich zeigen. Weil sie selbst im Wohlmeinen mich verletzen, mir aber verbieten die Grenze meiner Verletztbarkeit selbst zu bestimmen.

   Erwartet wird, daß es mich nicht verletzt, wenn ein Wiener Professor mir lächelnd sagt, daß er Juden mag und der Pförtner in seinem Krankhaus auch einer ist und gegen den hätte er nichts. Oder wenn auf einem Fest, wo alle zu viel getrunken haben, eine gebildete Dame sagt: "So lange mir der Jude nichts tut, tue ich ihm auch nichts."
   Oder wenn Wohlmeinende und nette Leute meinetwegen jiddische Lieder anstimmen und erwartungsvoll mich anschauen, ob ich mich nun freue und zufrieden bin. Soll ich sie loben? Ja, ich liebe Klejzmir und jiddische Lieder, aber muß jeder Jude diese Musik mögen und gerne hören. Ich sitze gerne mit anderen bei Festen und am Freitagabend zusammen und singe Lieder, aber ich möchte bestimmen, mit wem ich singe. Ich bin doch nicht der bestellte gefühlvolle Jude vom Klejzmirdienst.
   Bei politischen Aktionen, bei Hilfe für Flüchtlinge und Telefonketten werden die einen als linke Ratten beschimpft, die man totschlagen und ersäufen muß. Das ist der Ton heutzutage. Ich werde als linke Judensau angeschrien, die man vergessen hat zu vergasen. Nein, ich hatte nur das Glück, daß ich noch geboren werden konnte.
   Ich wohne in einem Haus, in dem 1938 eine alte Jüdin untergebracht war. Sie wurde neununddreißig zur Deportation nach Riga abgeholt. Seitdem reden die Leute vom Judenhaus. Das sagen sie nur selten und meinen es nicht so, wie sie es sagen. "Aber jetzt", fügen sie manchmal mit einem Lächeln in mein Gesicht hinzu, "jetzt stimmt der Name doch wieder. Oder?" Und wie so oft stelle ich mich tot. Ich kann keinen Widerstand leisten. Ich bleibe und lächle oder ich gehe weg und lächle. Ich weiß nicht, was ich sagen könnte. Ich weiß, daß jedes ausgesprochene Wort gegen und über Juden, die Wahrheit ist. Ich weiß, daß wenn ich auch nur ein Wort meiner Familiengeschichte erzählte, ich den Leuten Angst mache. Und ich bin es, die sich schließlich entschuldigen und dabei auch noch lächeln muß.
   Ich schäme mich zu sagen, ich bin Jüdin. Ich sage immer noch, meine Großmutter war Jüdin. Das Wort klingt mir fremd, klingt wie ein Schimpfwort, wie Schande, obszön. Die Scham klingt durch, mich den anderen zumuten zu müssen und in den Augen der anderen zu den Opfern zu gehören. Aber ich bin kein Opfer. Und ich will es auch nicht werden.
   Wissen möchte ich, was es für mich bedeutet, daß meine Großmutter Jüdin war, daß die Familie nicht religiös lebte, aber in Traditionen und Lebenseinstellungen mit einer unverwechselbaren Identität, die mir fehlt und die ich auch nicht bekomme, wenn ich Hebräisch lerne und Religionsunterricht nehme. Mit wem sollte ich Schabbat feiern und zu wem Schalom sagen und Schana towa. Gelingt es doch nicht einmal, den Sonnabend, den Schabbes ohne Arbeit zu halten, gelingt es nicht einmal, daß die, die einen lieben, sich mit den Festen einrichten.
   Und wer würde mir im Ernstfall helfen, wenn die Abgrenzungen zwischen Deutschen und Juden noch deutlicher, Juden als Ausländer begriffen werden, die zu ihren Landsleuten gehen sollen? Da schreiben bekannte und fortschrittliche Journalisten fleißig in Sonderheften über die Linke und die Juden, die Deutschen und die Juden und im besten Fall eigener rührseliger Betroffenheit stellen sie fest, daß Juden lebendige Menschen sind, keine Gipsbeine wurden vergast. In der Hauptsache aber beschäftigen sie sich in ihren geschwätzigen authentischen Selbstdarstellungen nur mit ihren Gefühlen und liefern neuen Stoff für Ausgrenzungen.
   Es gibt einen jiddischen Witz, der erzählt von Moses, nicht vom kleinen Moses aus der Leipziger Idastraße, vom großen. Moses wird gefragt, warum er mit einer Brille schläft. Moses antwortet: "Ich bin so kurzsichtig, daß ich im Traum nicht die Menschen erkenne, die ich sehe."
   Ich brauche im Leben wie im Traum eine Brille, um die Menschen unter den Leuten zu erkennen. Ich brauche nicht nur an jedem Freitagabend meinen guten Engel, der Amen sagt, wenn die Kerzen brennen und Brot und Salz auf dem Tisch stehen. Und der nicht mehr Amen sagt, wenn ich es nicht gerichtet habe, wie es sein soll.
   Und ich brauche meine Großmutter. Sie ist die einzige, die mir erzählen kann, was sie sah und dachte, als sie mit dem Eimer und den Kartoffeln durch die Straße ging und mit drei oder vier oder fünf Kartoffeln aushalf. Zur rechten Zeit ist sie gestorben. Das soll mir nicht passieren. Es gibt noch so viele Geschichten zu erzählen.
   Ich öffne die Schränke und fahre die Himmelsfahrten, in allen runden Sekunden. Ich beginne zu reden und warum soll ich nicht zuschauen, wie ein Pferd in der Szerokastraße in Krakau einen Tango auf dem Tisch tanzte? Warum soll ich nicht mittanzen?

 

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© J. Monika Walther