Wir werden wie die Träumenden Sein - Seite 2
Scarlett O'Hara tanzte in ihrem Apfelgrünkleid auf einem Sommerball, als Bertha Zuckerkandl 1884 geboren wurde, eine jüdische Journalistin aus Wien. Ihre Erinnerungen werden in Stockholm veröffentlicht, nicht in Deutschland. Ein Beispiel von vielen. Aber warum soll das, was Frau Zuckerkandl erinnert, wichtig sein?
Die Mörder der Nazizeit töteten nicht nur, sie raubten vielen Künstlerinnen, Journalisten, Schriftstellern, Schauspielerinnen ihr Recht auf Andenken, auf Arbeit; sie raubten den Menschen die Würde, die Habe, die Orte und Wege und jede Chance ihren Fähigkeiten entsprechend zu leben und zu lieben. Egon Hurgarowitsch und seiner Frau, den Wohlraths, den Böttchers, den Müllers und Wolffs aus Leipzig und Berlin.
Das Nazi-Regime verbannte und ermordete, aber es war das "neue" Deutschland, daß sie alle gründlich in der Vergessenheit hielt. Ein Schlußstrich wurde vom Nationalsozialismus und den nachfolgenden deutschen Staaten gezogen unter gelebtes jüdisches Leben, unter kulturelle Selbstverständlichkeiten, auch unter die, als Jude nicht jüdisch lebten, sondern deutsch, links, in Leipzig, protestantisch, national gesinnt, mit Heimatliebe als Seelenverfassung, mit Pessach und Tannenbaum, antisemtischem Selbsthaß und der Begierde geliebt zu werden, wenigstens anerkannt. Oder wenigstens den anderen Deutschen das Gefühl von Einheit und Geschlossenheit zu vermitteln, als Jude. Wenigstens das.
Übt Gott an den Juden das Zerbrechen? Nein, wer wäre er dann? Ein vorstellbarer Gott. Oder: "Ein Jude ist genau wie die anderen, nur alles ein bißchen mehr", sagt Shaw, doch diese Definition läßt sich auch auf die Deutschen oder auf die Dichter anwenden. Aber das stimmt, eine Rolle, eine Frage wird den Juden aufgedrängt: Was ist ein Jude? Und die Antworten sind so unterschiedlich, weil es nicht der Glaube, nicht die nationalsozialistische Rassendefinition ist, nicht der nationale Stolz.
Erzogen wurde bin ich bis zum 14. Lebensjahr protestantisch und jüdisch. Das Jüdische war alles, was nicht ausgesprochen wurde, das verdrängte Unglück, die verlorenen Selbstverständlichkeiten einer Leipziger Familie, waren die Reisen ins Ausland zu Verwandten, die aber nicht mehr deutsch sprechen wollten, war Viktor, mein Bruder, mein halber Bruder, über dreißig war ich, als ich erfuhr, daß es ihn gab. Als Kind versteckt in den Niederlanden, in einem winzigen Dorf, in der Synagoge dort, Versteckter, Überlebender, sehnsüchtig danach kein Jude zu sein. Damit aber aufzuhören, Jude zu sein, scheint unmöglich. Warum? Weil es ist, wie ein Mensch fühlt, spricht und sich bewegt? Oder: daß ich werde, wie ich selbst bin, optimistisch und keine andere, die ich vielleicht sein wollte und wie es vielleicht auch einfacher wäre und verlockender? So bleibt die Frage, wie binde ich anders mir die Schnürsenkel? Denn woher sonst will wer wissen, daß ich eine Jüdin bin? Wo es meine Mutter nicht gewußt hat und nicht wissen will und meine Großmutter in aller Selbstverständlichkeit ihre Regeln gelebt hat.
Doch ganz ungefragt wie in das Leben selbst wurden sie in die jüdische Zwangslage gebracht, die war nicht weg zu lügen, nicht die Hilflosigkeit, nicht die Bedrohung der Selbstachtung. Glück hat meine Mutter gehabt, daß sie überlebte, aber sie hätte sehr viel mehr Glück gebraucht, um in Leipzig wieder Zuhause zu sein und eine Zukunft zu leben. Um sich und auch mich nicht im Stich zu lassen.
"Sie sind jüdischer Herkunft?" fragen mich Bekannte und Fremde, mit einem Lächeln, wenn ich mich mit wenigen Sätzen aus der Familiengeschichte zu erkennen gebe. Das Wort Jüdin mögen sie nicht in den Mund nehmen, das ist tabu, das ist ein Opferwort. Kluge Leute sind sie, die Auschwitz und Sachsenhausen besucht und dort in all ihrer deutschen Geschichtsscham geweint haben, obwohl sie niemanden in den Gaskammern verloren haben, die fassungslos aufseufzen über die Gewalttätigkeiten und Umfrageergebnisse in der neuen deutschen Republik, über die neuen linken und rechten Nationalisten.
Das Wort Jude oder Jüdin bringen sie auch nach längerem Reden nicht über ihre Lippen. Aber sie diskutieren israelische und palästinensische Politik und rechnen die Taten der Israelis mit denen der Nazis auf. Und sie denken laut darüber nach, warum deutsche Juden Opfer wurden, warum Juden überhaupt, und was diese Menschen getan haben, um massenhaft und einzeln ermordet zu werden.
Linke Intellektuelle loben den Warschauer Aufstand und rechnen ungefragt vor, wie es gewesen wäre, wenn jeder zur Deportation aufgelistete erwachsene deutsche jüdische Mensch einen SS-Mann oder Wächter getötet hätte.
Ich frage mich, wie zwei meiner Onkel, freundliche und bescheidene Männer, dazu kommen, ihnen unbekannte Menschen in Uniformen zu erschlagen. Menschen, die für sie den respektierten Staat verkörperten. Dies hätten ja auch die Nachbarn tun können, die Arbeitskollegen, die sahen wie die beiden Onkel verachtet, eingefangen und abtransportiert wurden. Das erste Mal kamen sie wieder frei, weil sie respektierte Bürger Leipzigs und Berlins waren. Das zweite Mal wurden sie mit ihren Frauen und Kindern abtransportiert.
Eine Freundin, die mich das erste Mal besucht und sagt, daß sie mich kennen lernen will und daß sie früher in der DDR auf keinen Juden je getroffen ist, fragt mich als erstes, wie hältst du es mit dem Staat Israel und seiner Politik? Sie weiß, was die Israelis zu tun hätten. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß es gut ist, wenn es ein Land gibt, in das Juden flüchten können, aber Fremde wären diese Flüchtlinge dort und zu suchen hätten sie in Israel nichts. Außer die allerletzte Zuflucht.
Ich stelle mich der Diskussion nicht. Ich stelle mich tot, wie meist und versuche nur freundlich zu erklären, warum es Israel gibt. Ihrem Gesicht sehe ich an, daß sie nicht versteht.
Einen Tag später sagt diese Frau und sie meint es entschuldigend und freundlich: "Zu Juden fallen mir nicht einmal die richtigen Fragen ein." Und dann erzählt sie mir, daß es in ihrer Stadt eine neu renovierte Synagoge und ein jüdisches Museum gibt. Ohne nachzudenken, fühle ich den Satz: Und früher gab es dort eine der größten lebenden jüdische Gemeinden. Aber ich sage nichts. Ich stelle mich lieber tot.
Ich besitze ein einziges Foto meiner Großmutter. Sie sitzt aufrecht auf einem großen Stuhl mit Armlehnen. Das Kleid hochgeschlossen und lang. Keß hat sie einen weißen Kragen um den Hals gelegt. Die Beine übereinandergeschlagen. Schräg sitzt sie in dem Stuhl, eine Hand liegt ruhig auf ihrem Knie. Mit dem anderen Unterarm stützt sie sich leicht auf die Armlehne. Sie lächelt. Als wüßte sie alles. Ihr Gesicht hat Ähnlichkeit mit meinem Gesicht, aber so ruhig und bestimmt habe ich nie gelächelt. Ich war immer aufgeregter und unsicherer, weiß nicht, was das Unverlierbare in meinem Leben sein könnte. Meine Würde finden und behalten lernen. In Herzlichkeit, liebend und in Frage stellend.
Meine Großmutter war eine große stattliche Frau; vierundvierzig ist sie auf dem Bild eines Leipziger Fotografen. Das letzte Bild von ihr. Neunzehnhundertvierzig stirbt sie. Vier Wochen nach ihrem viel älteren Mann. Sie stirbt zur rechten Zeit ihren eigenen Tod. Sie ist Jüdin.
Mein Großvater ist Protestant und ein überzeugter Monarchist. Er flaggt an seinem Leipziger Haus niemals die Hakenkreuzfahne, auch nicht unter Strafandrohungen des Straßenwartes. Er grüßt niemals mit erhobenem Arm und sagt niemals Heil Hitler. Nicht weil er ein mutiger Mann ist, sondern weil er sich mit seinen sechsundsechzig Jahren nicht sagen lassen will, was er zu tun und zu unterlassen hat.
Mein Großvater ist stolz auf sein Deutschland. Er ist konservativ, aber im besten Sinne und allem Neuen gegenüber aufgeschlossen. Er liebt meine Großmutter in zärtlicher Distanz und mit großem Respekt. Er führt sie jeden Sonntag aus. Er trägt, seit er sie kennt, ihr Bild an einer langen goldenen Uhrkette in seiner oberen Westentasche. Er achtet sie als die jüngere und tüchtige Frau, die das Haus verwaltet, mit seinen acht Wohnungen, keine unter hundertfünfzig Quadratmeter. Die den großen Haushalt mit zwei älteren Tanten und Dienstmädchen führt; am Tisch sitzen abends selten weniger als sechzehn diskutierende und essende Menschen. Die überall, in der Kohlenhandlung im Hinterhof, im Kolonialwarenladen im Hochparterre, im riesigen Garten und auch in der Straße, nach dem rechten sieht, hilft, Geld gibt, Kartoffeln verteilt.
Sie ist eine lebenslustige Frau, eine, die gerne ißt und lacht und die ihre Eleganz und Vornehmheit niemals gegen andere wendet. So wird mir von ihr erzählt. Daß sie Jüdin ist, daß alle Frauen in dieser sehr großen Verwandtschaft Jüdinnen sind, wird mir nicht erzählt. Es wird mir verschwiegen. Die Scham ist es, die ich als Kind erlebe; die Scham über die verlorene Selbstachtung. Die Scham ist wortlos; es gibt keine Geschichten, die erzählten Erinnerungen enden 1940 und beginnen voller Lücken 1946, 1948, 1950, nach dem Bau der Mauer und dem Weggang oder Flucht aus der DDR. Nach den ersten armen Jahren im Westen. Erst seit der Wende gibt es kleine alte Geschichten und Erinnerungen.
Von der Großmutter wird immer noch gesagt: "Sie ist zur rechten Zeit gestorben." Und Großvater auch. Beide innerhalb von vier Wochen. Erzählt wird, daß Großmutter, eine geborene Böttcher, eine verwitwete Wohlrath, alle Söhne und Töchter, verheiratet oder nicht, alle Verwandten, die nicht wußten wohin, die nicht emigriert waren oder nicht flüchten wollten, im Haus, in ihrer Wohnung aufnahm, versorgte, sich um Papiere und Stempel kümmerte. Es wird erzählt, daß sie einen Mittagstisch einrichtete für alle in der Straße, die nichts oder viel zu wenig zu essen hatten, daß sie eimerweise die Kartoffeln und Kohlen zu den armen Familien trug. Zu deutschen Christen und deutschen Juden.