Wir werden wie die Träumenden Sein - Seite 6
Erwartet wird, daß es mich nicht verletzt, wenn ein Wiener Professor mir lächelnd sagt, daß er Juden mag und der Pförtner in seinem Krankhaus auch einer ist und gegen den hätte er nichts. Oder wenn auf einem Fest, wo alle zu viel getrunken haben, eine gebildete Dame sagt: "So lange mir der Jude nichts tut, tue ich ihm auch nichts."
Oder wenn Wohlmeinende und nette Leute meinetwegen jiddische Lieder anstimmen und erwartungsvoll mich anschauen, ob ich mich nun freue und zufrieden bin. Soll ich sie loben? Ja, ich liebe Klejzmir und jiddische Lieder, aber muß jeder Jude diese Musik mögen und gerne hören. Ich sitze gerne mit anderen bei Festen und am Freitagabend zusammen und singe Lieder, aber ich möchte bestimmen, mit wem ich singe. Ich bin doch nicht der bestellte gefühlvolle Jude vom Klejzmirdienst.
Bei politischen Aktionen, bei Hilfe für Flüchtlinge und Telefonketten werden die einen als linke Ratten beschimpft, die man totschlagen und ersäufen muß. Das ist der Ton heutzutage. Ich werde als linke Judensau angeschrien, die man vergessen hat zu vergasen. Nein, ich hatte nur das Glück, daß ich noch geboren werden konnte.
Ich wohne in einem Haus, in dem 1938 eine alte Jüdin untergebracht war. Sie wurde neununddreißig zur Deportation nach Riga abgeholt. Seitdem reden die Leute vom Judenhaus. Das sagen sie nur selten und meinen es nicht so, wie sie es sagen. "Aber jetzt", fügen sie manchmal mit einem Lächeln in mein Gesicht hinzu, "jetzt stimmt der Name doch wieder. Oder?" Und wie so oft stelle ich mich tot. Ich kann keinen Widerstand leisten. Ich bleibe und lächle oder ich gehe weg und lächle. Ich weiß nicht, was ich sagen könnte. Ich weiß, daß jedes ausgesprochene Wort gegen und über Juden, die Wahrheit ist. Ich weiß, daß wenn ich auch nur ein Wort meiner Familiengeschichte erzählte, ich den Leuten Angst mache. Und ich bin es, die sich schließlich entschuldigen und dabei auch noch lächeln muß.
Ich schäme mich zu sagen, ich bin Jüdin. Ich sage immer noch, meine Großmutter war Jüdin. Das Wort klingt mir fremd, klingt wie ein Schimpfwort, wie Schande, obszön. Die Scham klingt durch, mich den anderen zumuten zu müssen und in den Augen der anderen zu den Opfern zu gehören. Aber ich bin kein Opfer. Und ich will es auch nicht werden.
Wissen möchte ich, was es für mich bedeutet, daß meine Großmutter Jüdin war, daß die Familie nicht religiös lebte, aber in Traditionen und Lebenseinstellungen mit einer unverwechselbaren Identität, die mir fehlt und die ich auch nicht bekomme, wenn ich Hebräisch lerne und Religionsunterricht nehme. Mit wem sollte ich Schabbat feiern und zu wem Schalom sagen und Schana towa. Gelingt es doch nicht einmal, den Sonnabend, den Schabbes ohne Arbeit zu halten, gelingt es nicht einmal, daß die, die einen lieben, sich mit den Festen einrichten.
Und wer würde mir im Ernstfall helfen, wenn die Abgrenzungen zwischen Deutschen und Juden noch deutlicher, Juden als Ausländer begriffen werden, die zu ihren Landsleuten gehen sollen? Da schreiben bekannte und fortschrittliche Journalisten fleißig in Sonderheften über die Linke und die Juden, die Deutschen und die Juden und im besten Fall eigener rührseliger Betroffenheit stellen sie fest, daß Juden lebendige Menschen sind, keine Gipsbeine wurden vergast. In der Hauptsache aber beschäftigen sie sich in ihren geschwätzigen authentischen Selbstdarstellungen nur mit ihren Gefühlen und liefern neuen Stoff für Ausgrenzungen.
Es gibt einen jiddischen Witz, der erzählt von Moses, nicht vom kleinen Moses aus der Leipziger Idastraße, vom großen. Moses wird gefragt, warum er mit einer Brille schläft. Moses antwortet: "Ich bin so kurzsichtig, daß ich im Traum nicht die Menschen erkenne, die ich sehe."
Ich brauche im Leben wie im Traum eine Brille, um die Menschen unter den Leuten zu erkennen. Ich brauche nicht nur an jedem Freitagabend meinen guten Engel, der Amen sagt, wenn die Kerzen brennen und Brot und Salz auf dem Tisch stehen. Und der nicht mehr Amen sagt, wenn ich es nicht gerichtet habe, wie es sein soll.
Und ich brauche meine Großmutter. Sie ist die einzige, die mir erzählen kann, was sie sah und dachte, als sie mit dem Eimer und den Kartoffeln durch die Straße ging und mit drei oder vier oder fünf Kartoffeln aushalf. Zur rechten Zeit ist sie gestorben. Das soll mir nicht passieren. Es gibt noch so viele Geschichten zu erzählen.
Ich öffne die Schränke und fahre die Himmelsfahrten, in allen runden Sekunden. Ich beginne zu reden und warum soll ich nicht zuschauen, wie ein Pferd in der Szerokastraße in Krakau einen Tango auf dem Tisch tanzte? Warum soll ich nicht mittanzen?
Der Prosaband "Wir werden wie die Träumenden sein -Eine Landsuche in Deutschland" von J. Monika Walther ist im Herbst 2002 erschienen. 280 Seiten (16 € ISBN 3 00 009161 0)
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