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Che Faro
Was mache ich heute?
Mai 2017
Che farò senza Euridice, che farò senza il mio ben’, dove andrò...
Ob Herr Orpheus und Frau Euridice die Wahl hatten, abzustimmen, wer sie beherrschte? Die erste Wahl, die Zweite. Ob sie auswählen konnten, wie sie leben wollten oder die Götter festgelegt hatten, wie das Leben und die die Geschichte ablaufen sollte. Auch in Hinblick auf die Schreibereien und die Kunst in den späteren Jahrhunderten und die Legenden. Ob sie ausgelost wurden, um ein Problem in Ruhe zu diskutierten und dann der Gemeinschaft Lösungen vorzuschlagen? Ob die Götter und Halbgöttinnen rational handelten oder je nach Lust und Laune. Letzteres ist wahrscheinlich. Allein der Dionysoskult ist eine ganze Welt an Dramen und Lust, Mord und Totschlag für sich. Viele widersprüchliche heilige und unheilige Geschichten. Nicht einmal einig sind sich die Überlieferungen darin, ob Dionysos ein König der Hölle oder des Vergnügens war oder ist.
Sicher ist, dass Orpheus und Euridice Zuhause nicht über ganz Europa, die SPD, CDU und andere Parteien diskutieren mussten. Dass sie keine Zettel bekamen und Kreuze machen sollten zu bestimmten Terminen. Ob sie ihre kleine Welt als groß oder zu global empfanden, wissen wir nicht. Und um Macht ging es den Menschen auch immer. Palaver gab es auch damals schon auf den Marktplätzen. Und: Gerüchte, die ganze Landstriche durcheilten. Auch Fake News: die Thraker sind trinkfeste Reiter. Oder: Orpheus ist ein Thraker, wenngleich wegen dieser Behauptung Landstriche von Makedonien zu Thrakien hin eingegliedert werden mussten, damit aus der Lüge Wahrheit wurde. Sicher ist auch, dass Menschen sich immer entscheiden müssen, was sie tun, wen sie auswählen, wohin sie gehen. Und dass sie das auch können. Und müssen. Dass sie verantwortlich sind. Im Kleinen fängt es an. Und deshalb ist es nicht sinnvoll, auf andere zu zeigen, die es richten sollen oder zu jammern. Die Götter – aus der Mode. Der Staat – immer wieder in. Schlimmer gar: sich einen Menschen zu suchen, dem es noch mieser geht und den zu treten. Mit unseren neuzeitlichen unheiligen Geschichten, Herrschern und Göttern aller Art müssen wir auf Dauer selbst fertig werden. Und immerhin: Wir leben in einer Demokratie und in einem halbwegs freien Europa. Im Westen noch ohne Krieg. Dafür bin ich dankbar.
Danken möchte ich heute auch Jan Steinberg, der meine Webseite aufbaute, der sie immer betreute. In meinen Augen ist er mit seinem Leben und dem seiner Familie, seiner Frau ein unglaublich moderner tüchtiger Mann. Das erste Che faro erschien 2002, im März. Vor fünfzehn Jahren also. Seitdem schrieb ich 82 mal: Was mache ich heute? Und meist war beim Schreiben das Heute schon überwunden, war aus dem Heute Vergangenheit und Zukunft geworden. Hier das dritte Chefaro aus dem April 2002:
„Ich habe mir das Leben ganz anders vorgestellt. Und jetzt ist es wohl schon zu Ende.“ Nein, das ist nun weder Euridice, die in der Hölle sitzt und von der wir nie erfahren, ob sie nun wirklich will, dass Herr Orfeus sie erlöst und befreit und es ist ja auch nicht zu wissen, ob Orfeus sich oder sie erlösen will mit seiner Arie voller Sehnsucht. Es ist Jenufa, die in Janaceks Oper im zweiten Akt darüber nachdenkt, ob sie den eigenen Kopf endgültig in den Putzeimer steckt oder in den Sand oder unter die eigene Achsel oder ihn einfach sinken lässt. Tränenüberströmt, diese ledige Kindsmutter, deren Geliebter über alle Berge ist. Diese Tränen weinen sich heute hier wie im 19. Jahrhundert im Mährischen.
Ist es nun das Leben, was man sich anders vorstellt oder ist es die Liebe? Über welche Tränen erfinde ich das eigene Leben?
„Jenufa, was bedeutet uns die Welt, wenn wir einander Trost spenden?“ sagt Laca, der gutmutige, aber auch eigennützige Trottel, mit dem Jenufa ihr Dasein lebt. Und auch das ist ja noch eine Utopie. Was bedeutet die Welt, wenn zwei einander Trost spenden? Flüchtiger Trost armer Leute? Oder der einzige Trost? Der Erste oder der Letzte? Aber Trost ist gut.
Wie stellt man sich Leben vor? Als Gang auf einem Weg wo man nie ankommt und also immer weiter sucht? Oder gibt es das Wunder des Ankommens doch?
Und da stellt sich gleich die Frage, ob die Menschen im Paradies nicht arbeiteten und wirklich kein Geld gebraucht haben? Oder war der Apfel das erste Geldstück, die erste Ware – und gab es ihn wirklich. Denn wenn etwas paradiesisch und leiblich ist, warum sollten keine Äpfel oder Feigen gegessen werden? Oder war das Paradies die erste Skizze von der Hölle im Menschenpark?
Wie auch immer. Endlich scheint die Sonne. Ostern ist vorbei, Pessach geht zu Ende. Die Lösung kann ja sein, dass es besser ist, zweimal zu fragen, als einmal irrezugehen ...oder ist es umgekehrt doch besser?
Was ich heute mache? A bissel und a bissel wird auch eine volle Schissel. Also schreiben und lesen wie immer. Und hoffen, dass die Freunde Freunde bleiben.
Soweit das Che faro aus 2002. Danke Jan Steinberg für Arbeit und Dasein. Vielleicht geht es ja noch ein paar Jahre weiter. Mit Orpheus und Euridice. Mit dem Schreiben und Leben. Draußen blühen der Flieder und der Apfelbaum. Die Bundestagswahl ist zum Glück erst im September. Beruhigen wird sich niemand, die Welt ist auf neue Art kompliziert geworden.
Was wünsche ich mir? Ein paar schöne Tage im Schreibhaus in Fryslân. Dass Freunde nicht Freunde bleiben, habe ich inzwischen gelernt. Dass Leben sich immer wieder ändert auch. Lange dachte ich, ich muss nur tüchtig Stein auf Stein bauen, dann wird alles gut, aber so ist es nicht. Liebe, Mögen, Freundschaft ist das große Geschenk. Zu erhalten ganz ohne eigenes Rackern.
Was tue ich? Mich noch immer freuen, dass ich drei Wochen in Meran mit dem Franz Edelmayer Stipendium sein konnte. Eine wichtige und gute Zeit. Langsam an den Fluchtlinien schreiben. Zu lesen unter: meraner.tagebuch.click Und: Allen Besonnenheit und klare Gedanken. Ein bisschen Sonne.
Jay