J. Monika Walther
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März 2008

Che farò senza Euridice, che farò senza il mio ben', dove andrò...

Der Säntis, die Relativität der Entfernungen, die Dauer von notierten Noten im Blues und - dieser Satz: "Man kann - unter der Voraussetzung der Widerspruchsfreiheit der klassischen Mathematik - sogar Beispiele für Sätze angeben, die zwar inhaltlich richtig, aber im formalen System der Mathematik unbeweisbar sind," sagte in Königsberg am 7. September 1930 auf einer Tagung von Mathematikern der "Mozart der Mathematik": Kurt Gödel. Dieser eine Satz, den er bewies, das heißt er hat paradoxerweise die Unbeweisbarkeit mathematisch bewiesen, genügte für seinen Weltruhm. 1978 starb dieser Herr der Formeln, dieser größte Logiker seit Aristoteles, Freund von Albert Einstein, in Princeton - aus Angst vor einer Vergiftung verhungerte er sich. Der Logiker war genial und verrückt.

Mit einer wunderbaren Formel bewies er die Existenz Gottes: X ist göttlich, genau dann wenn -X alle positiven Eigenschaften besitzt. Oder anders gesagt: Gott existiert, weil die Mathematik widerspruchsfrei zu sein scheint, was wiederum nicht zu beweisen war - bis Kurt Gödel die Unbeweisbarkeit bewies.

Zurück zum Säntis, der vor dem Altmann liegt und zwischen den Bündner und den Glarner Alpen, also in der Schweiz und zu den Appenzeller Alpen gehört. Unterhalb des Gipfels liegt die Schwägalp, von dort geht eine Seilbahn hinauf. Und außerdem steht auf diesem höchsten Berg der Ostschweiz auch ein Fernseh- und Rundfunkturm. Auf der Schwägalp kann man Appenzeller Käse essen, Kaffee Lutz und Kaffee fertig trinken, süßes Birnenbrot essen. Und hinaufschauen.

Der Name Säntis ist seit dem 9. Jahrhundert bezeugt und abgeleitet vom rätoromanischen Sambatinus, "der am Samstag Geborene". Der Säntis war in der Helvetischen Republik (1798 bis 1803) der Namensgeber des Kantons Säntis.

1846 wurde erstmals ein Gasthaus auf dem Säntisgipfel errichtet und 1882 eine Wetterstation eingerichtet. Diese wurde das ganze Jahr durch einen Wetterwart bedient, der aufgrund der extremen Wetterbedingungen die ganze Winterzeit über mit Vorräten ausgerüstet alleine auf dem Gipfel verbringen musste.

1922 wurde der Wetterwart Haas und seine Frau Maria Magdalena ermordet. Da die Wetterberichte ausblieben, stiegen Säntisträger zum Gipfel und fanden die Ermordeten. Der Täter soll ein Schustergeselle gewesen sein, der sich drei Wochen später in einer Alphütte erhängte. Bis heute ist ungeklärt, wie es zu dem Doppelmord kam, wer der Täter war, ob ein ehemaliges Regierungsmitglied nach dem Mord auf unehrliche Weise sich bereicherte. Das Theater Konstanz und sein Intendant, der auch Jurist ist, haben bei der Staatsanwaltschaft Appenzell Akteneinsicht beantragt, wegen einer szenischen Aufbereitung der Mordgeschichte. Einen Film gibt es auch: Der Berg. Also der Säntis ist schon wer. Vielleicht aber sind die Mythen, die zu den Berner Alpen gehören noch sehr viel mächtiger und geheimnisvoller.

Und nun also zur Relativität der Entfernungen: Von Westfalen aus ist der Säntis sehr weit weg, aber mit der Idee an den Bodensee oder eben bis zur Schweiz zu fahren, ist er näher. Und unerwartet zeigen sich die Alpen und der Säntis auf der Autobahn gen Süden, ganz nah.

Von da, wo ich ihn als Kind jeden Tag ein paar Jahre gesehen habe, aus einem Fenster im zweiten Stock der Eckenerstraße in Friedrichshafen, ist gar nichts zu sehen, außer Häuser, ineinander geschachtelt, als gäbe es keine Städteplanung oder den Gedanken von irgendeinem Gemeinderat: wie wollen wir leben? Da also - kein Säntis mehr, aber seitlich davon dann schon. Ganz nah. Aber wäre ich nicht zu diesem Säntis "geschubst" worden, mit Sätzen wie: Es sind nur noch 40 Kilometer bis - ich wäre nie auf der Schwägalp gewesen und durch hohen Schnee gefahren und hätte nie Appenzeller Käse gegessen und einen Kaffe Fertig getrunken. Mit Pflümli. Ich habe gedacht, der Säntis sei unerreichbar, obwohl ich doch hinaufgestiegen bin, als ich jung war. Für mich und meine Seele war der Säntis nicht erreichbar, obwohl zum Greifen nah.

Vom Säntis aus sind dann der Bodensee, Zürich, Basel, Schaffhausen, der Rheinfall und die deutsche Grenze sehr nah. Autohüpfer. Weit weg ist dann Westfalen. Oder Leipzig und Berlin. Hamburg.

Als ich ein kleines Kind war, brauchten meine Mutter und ich von Friedrichshafen am Bodensee nach Hamburg anderthalb Wochen.

Es fehlt noch die Relativität der Dauer von Noten in Bezug auf den Säntis und die Beweisbarkeit der Unbeweisbarkeit: Blues und Boogie stehen da auf dem Papier in Achteln, Vierteln, halben Noten, aber so zu spielen gibt keinen Blues und Boogie, vielmehr soll in Synkopen oder Triolen gespielt werden, also lang, kurz, lang und kurz - wenn zuerst eine Pause steht, ist die lang, also ein klein wenig länger und die nächste Note ein klein wenig kürzer. Alles aufzuzeichnen und zu spielen, aber bis die Noten wie ein Blues klingen, dazu braucht es eine Fahrt zum Säntis, Einsicht in die Relativität der Notendauer, die eine absolute ist und die Unbeweisbarkeit, dass es einen Teufel gibt, der überall mitmischt.

Was tue ich heute? Mich fragen, ob ich noch mehr Säntisberge im Blick habe und die für unerreichbar halte.

Und was wünsche ich mir? Dass ich klüger werde und umsichtiger - früher wünschte ich mir souveräner zu sein, aber das ist mir kein Wunsch mehr.

Jay