J. Monika Walther
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Was mache ich heute?

April 2023

Che farò senza Euridice, che farò senza il mio ben’, dove andrò...

singt Orpheus.

Wir wissen nicht, ob dieses Paar zu Lebzeiten darüber nachdachte, was sie vererben, was sie wem zukommen lassen. Kinder hatten sie keine. Euridice lebte im Hades, Orpheus hatte eine Lyra, eine alte Leier. Ein kleines Haus werden sie besessen haben. Hausrat, ein bisschen Geld. Dachten sie daran, wer was nach ihrem Tod bekommen sollte oder waren sie noch so jung, dass der Tod zu weit weg war. Für alle Zeiten berühmt wurden die beiden, ohne es zu wollen. Ihr Nachlass sind Legenden, Opern, Geschichten, Musik, die Geschichte eines griechischen Paares, über das bis heute nachgedacht und geschrieben wird. Warum dreht sich Orpheus um, warum drängte Euridice, dass er sie ansah? War es Mord oder wollte Euridice in der Unterwelt bleiben? Nein, vermutlich saßen die beiden nicht in ihrem Häuschen am Esstisch und besprachen ihren Nachlass. Inzwischen ist das ein großes Thema geworden. Was hinterlasse ich, welche Spuren und welchen Besitz vermache ich wie. Viele wollen wichtig sein. Eine Euridice, ein Orpheus mindestens sein.

Was wird nachgelassen, wenn der Vertrag mit dem Leben abgelaufen ist? Ein Haus, ein Baum, ein Buch? Familie. Geschichten. Tradition? Schnick schnack schnuck. Stein Schere Brunnen und Papier. Manchmal haben wir gewonnen und uns diebisch gefreut. Der kleine Extrapreis im Leben. Früher ging es dabei ums Abwaschen oder Abtrocknen. In den Zeiten vor der Spülmaschine. Früher und heute; hier, überall und am Ende der Welt. Das Nebeneinander und die gewusste Gleichzeitigkeit von allem und jedem im Kopf und in der Seele. Alles da, alles nah. Von der überbordenden Werbung bis zu den Toten und Attentaten überall. Macheten, Messer, Splitterbomben, Stalinorgeln, Langgewehre.

Hier ein guter Espresso, dort Folter in der Türkei, Bomben in Bagdad, ertrinkende Flüchtlinge. Kriege. Viele wohnen in keinem Haus und sind die Schleuderfiguren der Mächtigen. Werden geduldet. Ohne Vertrag für ein Leben in Würde. Und ihr Nachlass? Und was hinterlassen die Donalds, Putins und Receps, die wie so viele Menschen glauben, Hass sei eine Meinung; Mauern und Säuberungen eine Lösung. Alles nah, alles kommuniziert, alles da. Mülleimer, die im Internet ausgeschüttet werden und deren Inhalt ich sortieren und mich entscheiden muss. Und wie verhalte ich mich, wenn ich mir sicher bin, dass die Türkei sich zu einer Diktatur entwickelt? Was hat das mit den Rosen und Mohnblüten im Garten zu tun, mit den weißen Tauben des Nachbars? Wie hängt das alles zusammen und welche Rolle spiele ich?

Ich war 23 Jahre alt, als ich das Huisje in Ee kaufte. Für sechstausend Gulden, die Knechtswohnung des kleinen Bauernhofes in Fryslân. Von Ans und Piet Hiemstra. Eine Ruine. Ohne Wasser und Elektrizität. Abends trotteten zwölf Kühe in den Stall. Ans hatte keinen Herd, keine Dusche. Piet sagte damals, du kannst ja links sein, aber an Gott glaubst du doch? Ja, sagte ich, das tue ich. Und das stimmt bis heute. Damals, in den 60er Jahren, war das Leben auch in den Niederlanden ein ganz anderes als heute, auch wenn auf den Dörfern die Umbrüche immer etwas später und langsamer ankommen. Zum Glück, denn nun wird immer sichtbarer wie die Dörfer in ganz Europa sterben. Selbst Gott verschwindet. Der Ablauf war im letzten Jahrhundert immer derselbe. Als Dörfer wie Ee in Fryslân oder Hiddingsel im Münsterland noch lebten, gab es zwei Schlachter, drei Lebensmittelhändler, zwei Bäcker, einen Brennstoffhändler, einen Priester oder Pfarrer sowieso, vier Kneipen, eine Tankstelle, einen Malerbetrieb, eine Schreinerei, einen Fahrradladen, eine Autowerkstatt, ein Geschäft für Pferdegeschirre, eines für Kleidung, eines für Töpfe und Pfannen, einen Schmied. Eine Post, ein Fuhrunternehmen. Eine Schule. Dann schrumpfte die Einwohnerzahl. Ende des letzten Jahrhunderts gab es in Ee noch einen Postkasten. Im Lauf von nur zwei Generationen brachten neue Arbeits- und Lebensverhältnisse dörfliche Lebensformen und Traditionen zum Verschwinden. Erst im nächsten Jahrhundert konnte das Sterben wenigstens gestoppt werden. Aber wie lebendig sind die Dörfer?

Nach dem Kauf des kleinen Hauses erlebte ich, wie erst der katholische Kaufmannsladen schloss, dann einer der Schlachter, dann der Bäcker und so ging es immer weiter. Bis auch der Postkasten verschwand. Piet und Ans sind schon lange weg. Sie sind tot. Piet fuhr am Ende seiner Tage irgendwohin mit dem Fahrrad und wusste nicht mehr, wo er war. Ich habe ihn oft mit meinem kleinen Citröen gesucht und nach Hause gebracht.

Ans sagte mir schon im Winter, dass wir im Frühjahr streichen müssen. Im April stand sie dann im Overall da, fegte, schmirgelte und strich und irgendwann wusste sie, dass nebenan immer neue Farben in Mode waren. Passte sie sich mit Grün an, pinselte ich die Haustür bordeauxrot. Irgendwann begriff ich, dass wir uns einigen sollten. Nein, dass ich fragen sollte, wie wir im Frühjahr streichen wollen. Damit die beiden Huisjes endlich gleich aussahen: cremefarbene Fenster- und Türrahmen. Die Haustüren dunkelgrün.

Ans vermisse ich bis heute. Als Piet tot war, war Ans froh, die letzten Jahre endlich einmal in ihrem Leben nichts mehr tun zu müssen. Sie zog gerne in ein Altenheim. Da ich nicht noch ein Haus brauchte und bezahlen konnte, verkaufte sie an Fremde aus Leeuwarden. Neue Nachbarn. Es gab auf einmal Zäune zwischen den Grundstücken und Wegen. Es wurde vieles anders. Wie das eben so ist. Inzwischen gibt es wieder neue Nachbarn, breite Gehwege, neue Straßenlaternen, Glasfaser. Und ich bin immer noch da. Schreibe und rufe Hoj, wenn jemand vorkommt. In dem kleinen Dorf Ee unter dem weiten Himmel ist die große Welt, sind die Kriege weiter weg. So lange der Fernseher ausbleibt, so lange niemand daran denkt, niemand aufs Handy schaut, Twitter liest, wo der Hass und die Dummheit grenzenlos und abgrundtief sind. Wer will das kleine Haus, wenn ich tot bin? Was hinterlasse ich? Was soll bleiben, was will ich vergessen? Ich weiß es nicht und das ist gut so. Wenn es an der Zeit ist, in Dankbarkeit gehen. Aber wir alle zusammen stehen in der Pflicht, eine bewohnbare Erde zu hinterlassen und nicht für die Zerstörung der Kugel alles tun, was nur irgend an Untaten geht. Oder wie sollen die Jungen und Kinder dann leben?

Was tue ich?

Statt an dem Tagebuch der unmöglichen Reisen zu arbeiten, schreibe ich Erzählungen, Prosa, kleine Textstücke. Ab und an Notizen zu den Reisen und Recherche.

Was wünsche ich mir: Dasselbe wie das letzte Mal und das vorletzte Mal: Dass der Kampf gegen die Diktatoren, Autokraten und Faschisten gelingt. So viele tapfere Frauen und Männer wagen ihr Leben für Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Mit Freiheit meine ich Grundrechte, nicht dieses egoistische Geschrei um Wohlstand und Unverstand.

Der Lärm, der Lügnerinnen und Schreihälse von rechts bis nationalsozialistisch faschistisch wird immer lauter, immer verworrener und ohne ein Körnchen Wahrheit und Gefühl. Nie wieder, darum müssen wir uns jeden Tag uns kümmern. Nicht wegsehen, nicht weghören. Nicht denken, dass ist ja nur der Hans von nebenan oder die Gretel von gegenüber. Nein. Nie wieder Faschismus in Deutschland, weder rot noch braun noch blau lackiert.

Und:

Keinmal

Es war keinmal
dass der Zug hielt
Niemand einstieg
den Ort nicht kannte
und die Ansage nicht hörte.
Der Zug fuhr an
das Ende der Welt.
Ein einziges Keinmal.
Die Reisenden
lachten in ihre Fäustchen.
Auserwählt viel bezahlt.
Champagner und Kaviar.
Keinmal hielt der Zug.
Die Nacht verhängte die Blicke.

Es war einmal
dass der Zug hielt.
Angesagt und pünktlich.
Sauber und mit Restaurant.
Die Reisenden stiegen ein.
Höflich die Zugbegleiterin.
Die Türen wurden geschlossen.
Die Kelle gedreht grün und Pfiff.
Der Zug fuhr an rasend leise
querfeldein ohne Gleise
ohne Halt ohne Ziel
über die Ränder der Erde.
Einmal hielt der Zug
in der verlorenen Zukunft –
die Nacht verbarg das Elend.

(aus ‚Nachtzüge – Gedichte und gefundene Zettel, 2022)

Jay