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Was mache ich heute?
Dezember 2010
Che farò senza Euridice, che farò senza il mio ben', dove andrò...
Godard, dieser großartige avantgardistische Regisseur, der versuchte in seinen Filmen die Zeit anzuhalten, der das Begehren und die Liebe zeigte, in dem er Sprache und Gesten, Fühlen und Intellektualität, Kopf und Herz zusammenbrachte, miteinander kämpfen ließ, sie zu Kampfgefährten verschmolz, der in keinem seiner Filme, auch nicht als ab 1989 das Kino rettungslos in die kleinbürgerliche Gefühlswelt abglitt, aufhörte ein Feuerkopf zu sein. Seine Filme überschritten die Grenzen zur völligen Abstraktion.
Godard. 1990. Die Mauer, die fällt. Es gibt ein Bild: die Mauer fällt. Überall im Fernsehen. Godard sagt, er ist zu dieser Zeit in Berlin, wie gelangt man von einer Einstellung zu einer anderen. Jeder Amateurfilmer macht eine Einstellung: die Frau vorm Auto, die Tochter vorm Auto oder am Strand, die Haare wehen, die Wellen kommen, der Sand ist nass. Oder ein Mensch hockt da. Das bin ich. Fertig. Was ist davor, was danach, wo gehen die vom Strand aus hin, was tun sie, was denken sie? Steht der Mensch, der da trotzig hockt auf und lacht?
Es gibt immer das eine Bild: Kerzen am Weihnachtsbaum anzünden. Es gibt kein Bild, wie die Eltern sich anbrüllen, die Kinder davonrennen. Es gibt selten ein Interesse für die Folgen, dessen, was wir tun und anrichten. Wir stehlen uns aus dem einen Bild: Wir zünden die Kerzen an, und dann, wenn sie verlöschen? Haben wir Kerzen eingekauft? Wollen wir, dass Neue angezündet werden? Wie kommt zu dem einen Bild des Anzündens ein anderes, wie geht es weiter? Darum geht es ja im Leben. Um das nächste Bild. Jedes für sich ist einsam, wie jeder Mensch, ist in der Möglichkeit zu verschwinden oder zu existieren. Verknüpfe ich zwei Augenblicke, zwei Bilder, zwei Lebenseinstellungen muss ich mich für das, was geschieht interessieren und berühren lassen.
Godard: Lemmy Caution = Eddi Constantin reist durch ein einsames deutsches Land, ein künstliches Land, das verschwinden wird als Diktatur und bleibt als Heimat in den Seelen. Und bleibt als ein guter Staat für diejenigen, denen es gut in der Diktatur ging. Als eine Sehnsucht für diejenigen, die wegen der Diktatur ihre Heimat verließen.
In vielen amerikanischen B-Filmen verziehen sich einsame Männer, die nicht mehr gebraucht werden irgendwo an die Landstraße, an die Ränder. Sie pachten eine Tankstelle, sie ziehen in ein Zimmer über einem Laden. Einsame Frauen, die keiner mehr braucht, lassen sich in den amerikanischen Filmen etwas einfallen, kochen Marmelade, ziehen in ein Dorf, suchen nach einem anderen Bild von sich, nach einer neuen Einstellung.
In Europa gibt es diese Tankstellen nicht, auch nicht diese Pensionszimmer über einem Laden. In Europa ist es kaum erlaubt Fehler zu machen, heraus zu fallen. Da gibt es dann psychiatrische Einrichtungen aller Art. In „Vorname Carmen“ spielt Godard so einen Mann, der in einer Irrenanstalt einsitzt. Und die Zeit anhält. Ilse Aichinger verglich Proust und Godard, beide arbeiteten daran Zeit anzuhalten.
Es gab auf meiner Reise durch Polen, Litauen und Lettland winzige Augenblicke, in denen ich das Gefühl hatte, ich bin außerhalb der Zeit: wie an der livländischen Küste oder am 18. November, dem lettischen Unabhängigkeitstag, in Ventspils, als auf dem Markplatz gesungen wurde.
Auch im Leben muss die Verbindung zwischen zwei Fotos gefunden werden, zwischen zwei Einstellungen. Aber das braucht viel Interesse, Fühlen und Intellektualität – Kopf und Herz... fast mehr als in einen langen Kuss zu fallen.
Was wünsche ich mir? Jeden Freitag (Shalom shabbat) den Wörter/Gedichtetausch.
Und noch ein Wunsch: Auch 2011 ein paar Schlenderreisen: fahren, schauen, gehen, sehen, die Zeit anhalten, staunen.
Was tue ich heute: Minestrone kochen. Morgen: Neuer Vorstand und Beirat der Autorinnenvereinigung e.V. treffen sich das erste Mal, planen für 2011.
Und: In der jüdischen Kulturtraditionen wird der Unterschied zwischen Gedächtnis und Geschichtsschreibung aufgehoben, die Konstruktion von Geschichte wird mit der Erinnerungsarbeit identisch. Das Bild vom gewesenen ist Effekt der Erinnerung: Der historische Index der Bilder sagt nicht nur, dass einer bestimmten Zeit angehören, er sagt vor allem, dass sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen.
Je nach Fasson, Religion und Glauben eine frohe und gute Weihnachts-Zeit.
Jay