J. Monika Walther
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Juni 2018

Che farò senza Euridice, che farò senza il mio ben’, dove andrò...

singt Orpheus. Euridice schweigt. Dann kommt die Stille. Zeit zu husten. Ein Salbeibonbon zu lutschen. Zu atmen. Orpheus ist der Hölle entkommen, um in einem höllischen Alltag in Griechenland zu enden. Euridice bleibt in der Hölle der Vorstellungen, wie ihr Leben sein soll und der Bilder. Kafka schreibt: „Man fotografiert Dinge, um sie aus dem Sinn zu verscheuchen. Meine Geschichten sind eine Art von Augenschließen.“

Vor dem Sehen, dem Hören ist Stille. Ich sehe, was ich mir einbilde zu wissen. Ich lasse weg, was mich stört und ich nicht erkenne. Das Genre Hörspiel funktioniert, weil aus meinem Gedächtnis heraus Bilder, Sinn entstehen. Das Hörspiel lebt von Erinnerungen und vom Bildgedächtnis, wobei es nicht um ein Gedächtnis d e r Bilder geht oder um eine Erinnerung in und mit Bildern, sondern die Struktur der Erinnerung selbst ist in den Bildraum hineinverlagert

In den jüdischen Kulturtraditionen wird der Unterschied zwischen Gedächtnis und Geschichtsschreibung aufgehoben, das heißt, die Konstruktion von Geschichte wird mit der Erinnerungsarbeit identisch. Das Bild vom Gewesenen ist Effekt der Erinnerung: Der historische Index der Bilder sagt nämlich nicht nur, dass sie einer bestimmten Zeit angehören, er sagt vor allem, dass sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen. Wenn wir verstehen, was wir gesehen und erlebt haben, wenn das Wissen die Augenblicke kreuzt.

Am Material der Sprache kommen im Augen-Blick oder Hör-Moment unerwartete, ungewollte und unbewusste Ähnlichkeiten der in den Ähnlichkeiten entstellten Welt zum Vorschein. Allein der Sprache den Vortritt zu lassen, kann bedeuten, sich den Bewegungen und Gesetzmäßigkeiten der Lautbewegungen, den unwillkürlichen Bedeutungen oder den Bildern und der Syntax des Traums zu überlassen. Und Hin-Hören. Das Gleichgewichtsorgan und das differenzierte Unterscheidungsvermögen des Ohrs siedelt am gleichen Ort. Fünfhundert Unterschiede in der Sekunde nimmt das Ohr wahr.

Die Handlung des Hörspiels ist nicht das, was vor einem Mikrofon, in einem schalltoten Raum, in einem Manuskript stattfindet, letztlich nicht einmal das, was eine Schriftstellerin, ein Autor denkt und schreibt, sondern das, was sich bei allen an der Produktion eines Hörspiels Beteiligten: Schauspielerinnen und Regisseuren, Tonmeisterinnen und Cuttern und bei den Lauschenden an Bildern herstellt. Es sind die Erinnerungsbilder der Zuhörenden, die das Hörspiel als Medium zum Funktionieren bringen. Jedes Wort, jeder Laut, jede Stille löst ein Bild mit einer Geschichte, ein vergangenes, erinnerndes und ein utopisches Bild aus. Während jeder Sekunde eines Hörspiels können Jahre vergehen. Wie beim Setzen von Buchstaben, Wörtern. Ich weiß, dass die erfundene Wahrheit einer Geschichte wahrer sein kann als alle Nachrichten und Fakten. Aber wie lange brauche ich, um die Buchstaben und Wörter zu finden.

Der Akt des Schreibens bedeutet utopische Existenz, denn Schreiben ist buchstäblich ein nicht zu verwirklichender Plan. Literatur ist Utopie und Analyse, Vision und erzählte Träume. Verzweiflung und Lust, immer auch Welttheater: Wer schreibt, spinnt Fäden – bis die Figuren Menschen werden und ihre eigenen Weg gehen, manchmal laufen sie sogar aus den Büchern und Stücken davon.

Der Akt des Schreibens setzt sich über jede Distanz hinweg. Nicht weil die Schreibenden sich um das Unsagbare bemühen, sondern weil sie vom Banalen, Intimen, vom Essen der zu heißen Suppe, vom Pusten und Schlürfen, vom Blick aus dem Zugfenster und Kopfabwenden vom Nachbarn, vom Seilhüpfen und Räuspern, dem Gewehr putzen und anlegen erzählen, mit dem Wunsch, das Drehen des Riesenrades spürbarer, begreifbarer zu machen. Sich selbst die Welt im Geschichtenerzählen erklären.

Das Schreiben geht bis an die Schwelle des Schweigens oder der Geschwätzigkeit. Das Schreiben ist Annäherung, ist der Übergang vom Sichtbarmachen, vom Hörbaren, dessen Dauer die eines Hinhorchens ist, zum Schweigen hin. Ist die Annäherung vom eigenmächtigen Gedanken zur Eigenmächtigkeit des Ungedachten, von dem wir glauben, dass es gedacht werden könnte. Vor dem wir uns fürchten, in dem wir uns verlieren. Das wir herbeisehnen und keine Worte dann finden.

Wenn ich schreibe, will ich nicht rekonstruieren, wie Geschichte, das Leben anderer "eigentlich" gewesen ist, sondern die vergangenen und jetzigen Sprachmuster, Bilder, Träume, Mythen und Szenarien, in denen die Erfahrungen, die Geschichten der Menschen überleben, erkennbar, hörbar machen. Ich möchte die Geschichtlichkeit von Körper und Sprache, Verkörperungen und Sprachkörpern hörbar machen; die Geschichtlichkeit von Fantasien heute und ihr Zusammenhang mit den menschlichen Fluchtlinien. Ich suche nach den Geschichtsspuren in unserem Leben, nach dem Weg, der von der Vergangenheit in die Utopien führt. Vom Anfang zum Ende, in dem der Anfang wieder beginnt und das Ende zu wissen ist.

Was werde ich morgen tun, nachdem gestern vorbei ist? Glücklich schweigen. Mit einem Buch. Mit einem Brot in der Hand oder einer Aprikose. Mit dem Blick auf Mohnblüten, Rosen und Sonnenblumen. Klingt wie Kitsch, aber irgendwann – nein, so langsam wird es Zeit mit dem Alter, mit dem Tod zusammenzuleben. Nicht im Streit oder hadernd. Nein, nur dass er eben auch im Bistro sitzt oder herumgeht oder im Garten schaut, was wächst. Er stört nicht. Vielleicht sorgt er sich auch manchmal, ob ich daran gedacht habe, dass ich im Hotel einen Aufzug brauche, dass der Augenarzt demnächst aufhört zu praktizieren. Dass ich langsamer werde. Dass auf den Fotografien von früher immer mehr Tote sind. Dass die Familiengeschichte immer weiter in die Vergangenheit rückt. Nein, der Tod stört nicht, aber er ist dabei. Ganz leise sind seine Schritte.

Was wünsche ich mir? Dass es noch ein paar schöne Sommertage gibt. Dass ich in Ruhe schreiben kann. Dass die Verfugerei des alten Stalls gelingt und nicht zu lange dauert.

Was tue ich? Mich freuen, dass aus den Beobachtungen der Frau F. (jene Chronistin, die hinter den Deichen sitzt und die Welt beobachtet) ein Buch werden kann. Was tue ich nicht, ist im Augenblick eher das Thema. Ich bin nicht mehr Vorsitzende der 42er-Autoren, nicht mehr im Vorstand. Ich bin gar nichts mehr in diesem Verein und darüber sehr froh. Manchmal ist man wirklich zur falschen Zeit am falschen Ort und ruft dann auch noch „Hier“. Und es nützt nichts, dass genug Freunde sagen: Lass es. Nun ist es gelassen.

Und: Die Nachkriegsordnung des 1. und 2. Weltkrieges ist endgültig aufgelöst, auch in Europa. Gibt es noch Politik, die nicht der Gier, Macht und dem Geld zuarbeitet? Wie soll das weitergehen? Das Mittelmeer voller Boote? Europa, umgeben von Lagern und Soldaten? Was beschützen wir dann? Werte? Oder ausschließlich unser Wohlergehen? Kann es uns mit diesen Zuständen dann auf Dauer „gut“ gehen? Ob nun in Polen, Ungarn oder in den Niederlanden? Oder gibt es noch ein Bündnis der Demokratien?

Jay